Estland – Paradies für die digitale Ahnenforschung
Eigentlich würde man vermuten, dass genealogisches Arbeiten im baltischen Estland doch sehr schwer sein muss, weil es in seiner wechselhaften Geschichte meist von fremden Mächten besetzt war, oder? Doch Estland ist inzwischen ein Paradies für die digitale Familien- und Ahnenforschung.
Estland, das nördlichste Land im Baltikum, ist sprachlich und kulturell eng mit Finnland verwandt. Aber auch durch die jahrhundertelange Herrschaft der deutsch-baltischen Oberschicht gibt es viele Beziehungen der damaligen Oberschicht zu Deutschland. Diese führte um 1400 die Leibeigenschaft ein. Schweden und weitere Ostsee-Staaten führten Kriege um die Vorherrschaft über das Land, verloren es aber 1721 an Russland. Der 1918 erlangten Selbstständigkeit setzte Stalin 1940 ein Ende; das Ausscheiden des Landes aus der Union der Sowjetrepubliken führte zur zweiten Selbstständigkeit im Jahre 1990 und zum Beitritt zu EU und NATO. Der Präsident des Landes, Alar Karis, war Biologe an der Universität Tartu und Direktor des Estnischen Nationalmuseums, sein Frau Sirje Karis war Direktorin des Geschichtsmuseums und ist seit 2018 Leiterin des Stadtmuseums von Tartu.
Spitzenreiter in der Digitalisierung
In der Digitalisierung ist Estland Spitzenreiter in Europa, kein anderes Land hat so viel für den elektronischen Zugang der Bewohner zu allen e-Diensten getan. Estland hat die meisten Internetanschlüsse pro Kopf weltweit. WLAN ist überall im Land frei verfügbar. Alle Schulen sind online. Das gilt auch für Museen und Archive. 2023 konnte das estnische Kulturministerium den erfolgreichen Abschluss des dritten Teilprojekts des fünfjährigen Digitalisierungsprogramms für den öffentlichen Zugang zum kulturellen Erbe des Landes melden. Ein Drittel des kulturellen Erbes der estnischen Gedächtnisinstitutionen wurden digital verfügbar gemacht werden. Die Gesamtkosten betrugen 1,2 Millionen Euro. Im ersten Teilprojekt für den Zeitraum 1860–1920 wurden 2,7 Millionen Digitalisate von Quellen aus dem Leben auf lokaler Ebene erstellt (Gemeindeverwaltungen, Beschreibungen, Schulen Militär, Volkzählungen, Armenfürsorge). Das zweite Projekt für den Zeitraum 1920–1940 erschloss die landwirtschaftlichen Zählungen, Material des Literaturmuseums, aus dem Stadtarchiv Tallin, des Postmuseums und Sammlungen der Universitäten Tallin und Tartu. Im dritten Teil wurde das Archiv der Universität Tartu 1918–1944 digitalisiert, das Personaldaten von Studenten und Lehrern aus dem Nationalarchiv Estland enthält. Bisher wurden drei Prozent des dokumentarischen Erbes, 32 Prozent der Artefakte, 60 Prozent des Filmmaterials und 28 Prozent des gedruckten Erbes digitalisiert.
Quellen für die Familien- und Ahnenforschung
Die englischsprachige Startseite des virtuellen Lesesaals des Estnischen Nationalarchivs bietet nach einer kostenlosen Anmeldung u.a. Zugang zum Archiv-Informationssystem AIS und zu den digitalisierten Quellen SAAGA. Hier sind die Seelenlisten (Volkszählungen) des 18. und 19. Jahrhundert und die Kirchenbücher zu finden, die bis 1890 meist in deutscher Sprache, danach in russischer Sprache geführt wurden. Die evangelischen Pfarrer haben ihre Kirchenmitglieder in Listen erfasst und die Teilnahme am kirchlichen Leben protokolliert. Neben der Mediathek gibt es weitere Datenbanken, u.a. FOTIS für Fotos und die Kartensammlung MAPS. Die Volltextsuche mit TRANSKRIBUS oder die Personensuche im Index zu den Gemeindemitgliedern führt direkt zu den digitalisierten Quellen. Zahlreiche weitere Datenbanken stehen zur Verfügung z.B. zur Onomastik (Namenforschung), Adelswappen, Grundbüchern, Wackenbüchern (Einkünfte und Rechnungen der Güter), Revisionslisten, Einwohnern von Tallin, Studenten der Universität Tartu und mehr.
Die Hinweise für Familienforscher enthalten zudem Verweise auf eine Datenbank für Friedhöfe, Ortsnamen oder eine Webseite für die historischen Guts- und Herrenhäuser. Die baltischen biografischen Lexika wurden vom Münchener Digitalisierungszentrum in Zusammenarbeit mit der Universitätsbibliothek Tartu digitalisiert. Zu den baltischen Familien werden zahlreiche Quellen genannt, aber auch auf die livländische Ritterschaft im lettischen Archiv in Riga verwiesen. Die Sammlung des Archivars Gottfried Carl Georg von Törne enthält Material zu deutschen Familien von 1699 bis 1939. Zusammen mit dem Herder-Institut in Marburg und der Deutsch-Baltischen Gesellschaft entstand HEREDITAS BALTICA.
Die 1990 gegründete Estnische Genealogische Gesellschaft führt jährliche Tagungen durch und unterhält lokale Gruppen. Einen sehr guten Überblick zur Familienforschung in Estland liefert die Webseite der g-Gruppen, der schwedischen Gruppe zur Familienforschung rund um die Ostsee. Die Organisation der staatlichen Archive wird beschrieben und der Zugang zu SAAGA und AIS erklärt. Viele weitere Links zu Zeitungen, Landkarten, Ortsnamen, baltischem Adel und Ritterschaft. Biografien, Geschichte und Bibliotheken helfen bei der Suche. FamilySearch hat viele der Kirchenbücher und genealogischen Quellen fotografiert, digitalisiert und indexiert.