Ortsfamilienbücher – eine exzellente Forschungsgrundlage für die Geschichts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
von Georg Fertig, Robert Stelter, Christian Boose
Seit ihren Anfängen werden Ortsfamilienbücher außerhalb von wissenschaftlichen Institutionen durch engagierte Privatpersonen erarbeitet. Nach einer ersten Blütezeit in den 1970er Jahren rücken sie mit der Big-Data Revolution gegenwärtig zurück in das wissenschaftliche Interesse. Der folgende Beitrag soll verständlich machen, woher dieses Interesse rührt. Er führt anhand eines Einzelaspekts – der Heiratseinträge aus den Online-OFBs im Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen – vor, dass OFBs unterschiedlicher „Bauart“ für unterschiedliche wissenschaftliche Zwecke genutzt werden können. Und er beleuchtet, was OFB-Autoren dazu beitragen können, dass ihre Arbeiten in der akademischen Forschung wahrgenommen werden.
Zufällig trifft er zusammen mit einem bedeutenden Jubiläum: dem kürzlichen Erscheinen des 1.000sten Online-OFBs im von Herbert Juling betreuten Portal online-ofb.de. Die Autoren danken besonders auch denen, die bei der Vorbereitung des Artikels mit Daten und persönlichen Gesprächen geholfen haben, u.a. Leo Aretz, Herbert Juling, Phaina Koncebovski, Felizitas Plettendorf und Volker Schwan.
Warum sich Geschichts- und Sozialwissenschaften für OFBs interessieren
Was ein Ortsfamilienbuch (OFB) ist, müssen wir den Leserinnen und Lesern des CompGen-Blogs nicht erklären. Die meisten Familienforscher benutzen diese familienweise zusammengestellten Sammlungen von Geburts-, Heirats- und Todesdaten für einzelne Orte. Es sind für Deutschland bisher etwa 4.000 Ortsfamilienbücher entstanden, von denen etwa 1.000 direkt bei CompGen als Datenbanken unter online-ofb.de zur Verfügung stehen (für neuere Anleitungen und Berichte siehe Boose 2011, Kriete 2021). Ein OFB zusammenzustellen, ist vielleicht die anspruchsvollste und ganz sicherlich eine für die gesamte Familiengeschichtsforschung besonders nützliche Form genealogischer Arbeit. Dieser Nutzen geht über die Genealogie im engeren Sinne deutlich hinaus. Ein OFB hilft auch den Heimat- und Ortshistorikern in den Gemeinden und Archiven, und es ist eine wichtige Grundlage für die geschichtswissenschaftliche, demographische oder auch wirtschaftswissenschaftliche Forschung an den Universitäten. OFBs sind eine wertvolle Datenquelle, die es der universitären Forschung oft erst ermöglicht, sich der Geschichte vor Ort zu widmen und nicht nur in der Vogelperspektive zu verharren.
Erfunden wurden die Ortsfamilienbücher, damals meist als Dorfsippenbücher oder Ortssippenbücher bezeichnet, als die Genealogie im frühen 20. Jahrhundert mehr und mehr als eigenständige akademische Wissenschaft von den vererblichen Eigenschaften der gesamten Bevölkerung verstanden wurde – ein überambitioniertes Konzept von Genealogie, das sich nicht bewährte (Schlumbohm 2022). Die überragende Mehrheit der OFBs wurde allerdings viel später zusammengestellt, als die Genealogie sich längst zum mehr oder weniger unpolitischen Hobby ohne viel Kontakt zu wissenschaftlichen Instituten weiterentwickelt hatte. Interessanterweise wurde seit den 1950er Jahren in der internationalen Geschichtsforschung mit der „Familienrekonstitution“ eine dem OFB sehr ähnliche Methode entwickelt. Seit den 1970er Jahren wird in Arbeiten zur Historischen Demographie immer wieder auch auf OFBs zurückgegriffen. Demographen gehen dabei davon aus, dass Ortsfamilienbuch und Familienrekonstitution sich im Grunde nicht voneinander unterscheiden: Beide werden hergestellt, indem man Einträge (records) zu Ereignissen (events, also Geburt, Heirat und Tod) miteinander verbindet (eine linkage vornimmt). Wir haben es demnach also mit record linkage zwischen demographischen Ereignissen zu tun (Hammel 2001; Newton 2011, Imhof 1977, S. 97-112).
Diese Neuentdeckung der OFBs (aber auch die Existenz von älteren Vorläufern für kirchliche Zwecke) zeigt: Geburt, Heirat und Tod zu individuellen und miteinander zu Verwandtschaftsnetzen verknüpften Datenbeständen zusammenzuführen und diese auf bestimmte Orte zu beziehen, liegt sozusagen in der Natur der Sache. Dass ortsspezifische Informationen zu Geburt, Heirat und Tod eine Art Grundgerüst für die Geschichte vor Ort bieten, gilt nicht nur für die Historische Demographie, sondern auch in einer eher „mikrohistorischen“ Perspektive, mit Blick auf Gesellschaften als Summe verschiedener fundamentaler Beziehungen. Man könnte sagen: Ein Kirchenbuch und erst recht ein OFB bietet ein halbes – aber eben kein ganzes – Passepartout für das Verständnis historischer Gesellschaften. Von Philosophen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wurde Gesellschaft auf drei Typen von Beziehungen innerhalb des „Hauses“ bezogen, nämlich Geschlecht, Generation und Dienst; dazu traten Beziehungen zwischen den „Häusern“, wie Nachbarschaft, Freundschaft, Verwandtschaft, Markt und Herrschaft. Bei diesen Beziehungen geht es immer um konkrete Personen, um Mann und Frau, Eltern und Kinder, Hauseltern und Gesinde, Nachbarn, Paten, Kollegen… Schauen wir, was davon im OFB auftaucht: Sehr vieles! Nicht nur Geschlecht und Generation im Innern des „Hauses“, sondern auch die Verwandtschaft als Beziehungsnetz zwischen „Häusern“, der Arbeitsmarkt (über die Berufsangaben) und – weil wir es eben mit Familienbüchern mit Orts-Bezug zu tun haben – die Nachbarschaft (am besten natürlich dort, wo es konkrete Angaben zum Hausbesitz gibt). Andere gesellschaftliche Dimensionen rutschen Familienforschern öfters ein bisschen aus dem Blick: etwa der Dienst (Knechte, Mägde, Lehrlinge), die Freundschaft (Taufpaten und Trauzeugen), der Bodenmarkt (z.B. Grundstücksgeschäfte) oder die politische Herrschaft (wie sie in vielen archivischen Quellen Spuren hinterlässt). Geschichte kann also dort, wo sie (als „Mikro-Geschichte“) mit Interesse an konkreten Lebenswelten betrieben wird, von zahlreichen genealogischen oder aus der Heimatforschung stammenden Daten profitieren. Dabei dürfen besonders die OFB-Autoren selbstbewusst sagen: Wer wirklich etwas über Geschichte vor Ort wissen will, darf unsere Arbeiten nicht ignorieren.
Warum OFBs für die Demographie eine herausragende Alternative zu Familiengenealogien sind
Im Unterschied zur Mikro- und Ortsgeschichte war die Demographie, also die Wissenschaft von der Bevölkerung, ursprünglich vor allem an der Bevölkerung ganzer Staaten oder Territorien interessiert. Genealogische Daten sind aufgrund fehlender offizieller Statistiken im historischen Kontext für demographische Fragestellungen in letzter Zeit immer mehr entdeckt worden. Man spricht in der Demographie (und anderen Wissenschaften) auch von einer „Big Data Revolution“. Aufmerksam werden von Genealogen erstellte Stammbäume (eigentlich: Ahnentafeln) und Sammlungen von Einzelgenealogien analysiert, etwa der große auf Daten von geni.com basierende FamiLinx-Datensatz (Kaplanis 2018). Robert Stelter und Diego Alburez-Gutierrez (2022) haben allerdings gezeigt, dass demographische Maße wie z.B. die Lebenserwartung der Erwachsenen massiv verzerrt werden, wenn sich Analysen auf solche Datenbestände stützen. Sowohl die um mehrere Jahre höhere mittlere Lebensdauer als auch das Ausmaß der Streuung zwischen den Lebensdauern der einzelnen Personen entspricht bei den genealogischen Daten nicht der Gesamtbevölkerung, sondern eher dem, was man zur Sterblichkeit der Bevölkerung mit höherem sozialen Status, in ihrer Studie jener von Wissenschaftlern, weiß.
Wer die historisch-demographische Forschung zu Familienrekonstitutionsdaten kennt, wird das nicht überraschend finden. Demographische Arbeiten werden immer wieder genau daraufhin kritisch diskutiert, ob das Aufnehmen oder Weglassen bestimmter Personen, Paare oder Ereignisse zu einer Verzerrung führt (z.B. Alter/Newton/Oeppen 2020). Im Idealfall wertet man nicht Stichproben aus, sondern die Grundgesamtheit, für die man sich interessiert. Steht die Grundgesamtheit nicht zur Verfügung, sind die Eigenschaften der Stichprobe entscheidend. Enthält sie systematische Verzerrungen, z.B. durch die Übererfassung bekannter Persönlichkeiten, oder handelt es sich um eine Bevölkerung mit den Eigenschaften einer Zufallsstichprobe?
Ganz generell sind in demographischen Analysen nicht nur die Ereignisse von entscheidender Bedeutung, sondern auch die Risikobevölkerung; die Bevölkerung, die dem Risiko ausgesetzt ist, dass ein bestimmtes demografisches Ereignis eintritt. Um z.B. eine altersspezifische Sterberate zu berechnen, muss die Anzahl der ansässigen Personen im selben Alter, also alle Personen die in diesem Alter sterben könnten, bekannt sein. Die wachsende Verlockung, sich einfach Massen von genealogischen Informationen irgendwoher aus dem Internet zu beschaffen und deren Intransparenz durch schiere Masse auszugleichen, ist ein gefährlicher Ansatz, wenn nicht gar ein Irrweg. Die Abbildung der Grundgesamtheit ist oft unklar, so dass es besser ist, dem Beispiel der westeuropäischen und auch ostasiatischen Forschung zu folgen und sich auf einen klaren Wissensstand zu konkreten Orten zu beziehen (methodischer Standard: Bengtsson/Campbell/Lee u.a. 2004 sowie die beiden nachfolgenden Bände aus dem EurAsia Project). Dieser Wissensstand stammt in aller Regel (so auch in der international führenden englischen Forschung) von Genealogen, die einzelne Orte erforschen. Seit den 1970er Jahren ist dieser Weg wiederholt beschritten worden (für Deutschland: Knodel 1988, Imhof 1990, um nur zwei größere Studien zu nennen). Das Potential, das in den mittlerweile entstandenen OFBs steckt, ist dabei allerdings höchstens angekratzt worden.
Zwei Missverständnisse
Um herauszufinden, wie gut genealogisches Datenmaterial zu einzelnen Orten für ein historisch-demographisches Projekt geeignet wäre, hat unsere Arbeitsgruppe (Robert Stelter, Phaina Koncebovski und Georg Fertig, mit gutem Rat unterstützt von Christian Boose und Herbert Juling) in den letzten Wochen intensiv Online-Ortsfamilienbücher untersucht. Um deren Aussagekraft zu beurteilen, haben wir die ausgewählten OFBs sowohl mit den Original-Scans bei Archion und Matricula als auch mit Beständen an Verkartungen und Indizierungen aus wissenschaftlichen Projekten verglichen. Unsere Ausgangsfragestellung war die Ermittlung des jeweiligen räumlichen und zeitlichen Bezugs der Daten: Manche OFBs beziehen sich nur auf eine einzelne Kirchengemeinde, andere auf ganze Regionen, manche auf eher kurze, andere auf sehr lange Zeiträume. Auf den Startseiten der Online-OFBs und in den entsprechenden Genwiki-Artikeln ist das zwar zum Teil dokumentiert, aber nicht in einem einheitlichen Format. Zudem ist oft nicht eindeutig gekennzeichnet, für welche Zeiten und welche Orte der Satz gilt: Wenn du die Geburt, die Heirat oder den Tod einer Person nicht im OFB findest, dann steht sie auch nicht im Kirchenbuch. Eine wirklich hundertprozentige Erfassung der jemals am Ort lebenden Menschen ist auch damit zwar nicht gegeben, denn Menschen können zuziehen und wegziehen, ohne Spuren im Kirchenbuch zu hinterlassen – aber mit solchen OFBs kommen wir recht nahe an die „Grundgesamtheit“ der Bevölkerung vor Ort heran.
Beim Ausprobieren liegt die Idee nahe, die Daten aus den Online-OFBs (entweder von den Autoren als GEDCOM oder von Herbert Juling als statistische Auflistung zur Verfügung gestellt) jahresweise zu zählen und mit den entsprechenden Häufigkeiten in einer anderen Erfassung, entweder in einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt oder in einem genealogischen Indizierungs- oder Verkartungsprojekt zu vergleichen. Wir können dann ausrechnen, wieviel Prozent z.B. der jährlichen Heiraten im OFB erfasst werden – vorausgesetzt, die Referenzdaten sind richtig gewählt. Für Feudingen (Teil des OFB Wittgensteiner Land) sieht das z.B. so aus:
Abbildung 1 zeigt das Verhältnis zwischen der Zahl der Einträge aus Feudingen in Jochen K. Mehldaus OFB Wittgensteiner Land und der entsprechenden Zahl, wie sie in einem von Georg Fertig in den 1990er Jahren koordinierten Forschungsprojekt für die Jahre ab 1750 erstellt wurde. Zusätzlich können die Kirchenbücher bei Archion sowie Indizierungen bei Ancestry eingesehen werden. Die meist bei 100 % liegenden Werte zeigen, dass die beiden Datenreihen sehr gut passen, wenn auch nicht perfekt. Für Wittgenstein liegt uns nicht nur das Online-OFB mitsamt GEDCOM-Datei vor, sondern auch die Original-Datenbank in MS Access, in der Jochen K. Mehldau für jeden einzelnen Eintrag die Quelle mitsamt Seitenzahl und innerhalb jeder Seite mit einer Laufnummer festgehalten hat. Mehldau hat dabei nicht alle Einträge aus den Heiratsbüchern aufgenommen, sondern nur die Eheschließungen im jeweiligen Kirchspiel. Im Heiratsbuch wurden nämlich nicht nur „Kopulationen“ eingetragen, sondern auch Aufgebote (Proklamationen), Ledigenbescheinigungen, Entlassungen – also Einträge, die auf Eheschließungen in einem anderen Kirchspiel verweisen. Indexierungsdaten (hier punktuell einsehbar bei Ancestry) enthalten auch solche Einträge. Für das Jahr 1750 weist Mehldau für Feudingen 5 Ehen aus, genauso hatte Georg Fertigs studentische Hilfskraft im Jahr 1998 gezählt, und bei Ancestry tauchen dieselben Ehen auf. Für 1765 dagegen zählte Mehldau nur 13 Heiraten, bei Ancestry finden sich aber 18 – weil dort die Proklamationen miterfasst sind (und leider hatte auch die Hilfskraft genau diese 18 Einträge gezählt, was nicht dem Auftrag entsprach!). Gleich der erste Heiratsvermerk am 13.1.1765, Weber/Schmidt, wird bei Ancestry mit aufgelistet und wurde von der Hilfskraft mitgezählt. Im OFB wird er aber dem Kirchspiel Weidenhausen zugewiesen, wo dann (am 25.1.) die Trauung erfolgte.
Können wir schlussfolgern, dass Mehldaus Daten „richtig“ sind und die Indexierung bei Ancestry genauso „falsch“ ist wie die Zählung durch die damalige Uni-Hilfskraft? Das wäre ein Missverständnis, das erste von zweien, denen wir bei unserer Arbeit auf die Spur gekommen sind. Historische Demographen denken von den in den Quellen nachgewiesenen „Events“ her. Nur diese werden erfasst oder gezählt (siehe etwa die Darstellung bei Imhof 1977). Bei der nicht-nominativen Auswertung erfasst man nur Tauf-, Heirats- und Sterbefälle, bei der Familienrekonstitution werden genau diese Ereignisse – mitsamt Namen – in ein Familienblatt (fiche de famille) eingetragen oder verknüpft. Verkartung funktioniert dagegen so, dass z.B. aus einem Taufeintrag, der ja auch Angaben über Eltern und Paten enthält, alle Informationen gezogen werden, die Auskunft über Personen und ihre Beziehungen geben (einem von Jesper Zedlitz geschriebenen Genwiki-Artikel über Kirchenbuch-Verkartung zufolge). So werden nicht nur die Eltern-Kind-Beziehung und das Ereignis der Taufe (und der Geburt) selbst erfasst, sondern auch die Anwesenheit der Paten und – soweit diese als verheiratet angegeben werden – deren Paarbeziehungen. Unter Indexierung wird eine etwas weniger intensive Datenaufnahme verstanden, aber auch hier geht es darum, Kirchenbucheinträge auffindbar zu machen, die auch andere Personen als die jeweils geborenen, heiratenden und sterbenden selbst in ihren Zusammenhängen zeigen. Wir haben ähnliche Beobachtungen auch mit anderen Daten gemacht, die wir als Kontroll- oder Referenzdaten benutzt haben, etwa den im Portal Personenstand Reader 2 greifbaren Kirchenbuchindexierungen. Eine Indexierung, die die Namen von Aufgebotenen, Taufpaten, Brauteltern usw. nachweist, ist keine „falsche“, sondern für den genealogischen Zweck gerade eine besonders reichhaltige Indexierung – es ist nur eine Herausforderung für die demographische Arbeit, sie in eine Erfassung der drei Typen von Ereignissen zu „übersetzen“.
Ein ganz anderes Bild zeigt sich für Altenberge. Hier liegt ein OFB vor, das – wie ein großer Teil der Datenbanken im Projekt online-ofb.de – noch in Arbeit ist und gerade zu dem Zweck online gestellt wurde, dass im Lauf der Zeit Hinweise gewonnen werden können, die eine Ausweitung ermöglichen. Als Referenzreihe haben wir Kirchenbuchindizierungen gewählt, die bei Personenstand Reader 2 (PR2) online abgerufen werden können. Hier sieht man deutlich, dass eine eins-zu-eins-Übertragung aller Heiratseinträge bislang noch nicht erfolgt ist. Im Lauf der Jahrhunderte steigt dabei die Erfassungsdichte an. Anders als bei Feudingen gibt es aber keine Phasen, in denen sie konstant bei 100 % läge. Das hat zwei Gründe: Erstens liegt es daran, dass wir hier als Referenzgröße Daten von PR2 genutzt haben, also einem genealogischen Indizierungsprojekt. Punktuelle Abgleiche mit den bei Matricula einsehbaren Originalkirchenbüchern zeigen, dass PR2 im 17. und 18. Jahrhundert in der Regel die in der örtlichen Kirche geschlossenen Ehen erfasst (das sieht man an den meist auf oder nahe der 100%-Linie liegenden einzelnen Sternchen bis etwa 1800), zumindest im 19. Jahrhundert aber nicht nur diese, sondern auch Entlassungsvermerke (wie die Sternchenwolke weiter rechts zeigt). Und zweitens ist es ein Hinweis darauf, dass dieses OFB eben keine abgeschlossene „Familienrekonstitution“ im demographischen Sinne ist.
Das gilt, wie unsere Recherche gezeigt hat, für viele Online-OFBs – und darin liegt ja gerade auch ein möglicher Grund, dieses Medium zu wählen, anstatt das fertige OFB zu drucken. In manchen Online-OFBs sind einzelne Kirchenbücher für bestimmte Zeiträume bereits komplett erfasst und andere eben noch nicht. Andere Online-OFBs werden regelmäßig aktualisiert, wobei neue Personen oder Familien erst dann hochgeladen werden, wenn die dazugehörigen Ereignisse komplett dokumentiert sind. Mit anderen Worten: Manche Autoren recherchieren lieber Personen auf ihrem Lebensweg von Ort zu Ort hinterher, manche arbeiten Kirchenbücher Jahrgang für Jahrgang ab. Wer will es ihnen verdenken? Aus Sicht der Geschichtswissenschaft ist beides wertvoll: sowohl das komplette Ortsgeschehen als auch der komplette Lebensweg. Nur für die demographische Nutzung zeigt sich ein zweites mögliches Missverständnis: Nicht jedes Ortsfamilienbuch kann als Familienrekonstitution einer klar definierten und erfassten „Grundgesamtheit“ benutzt werden.
Bestandsaufnahme
Zurück zur Frage, für welche Zeiten die OFBs die weitgehend vollständige Erfassung der Grundgesamtheit enthalten. Herbert Juling hat für die OFBs aus dem Raum NRW Datenreihen erstellt, aus denen wir für jedes OFB, für jedes Jahr und für jede Ortsangabe innerhalb der OFBs sehen können, wieviele Eheschließungen im OFB stehen. Anhand kleiner Stichproben haben wir die OFBs mit Original-Kirchenbüchern und Indizierungen abgeglichen. Bei einigen OFBs ließ sich nicht abschließend klären, ob und welche Quellen komplett erfasst wurden. In der Tabelle haben wir auch versucht, die jeweiligen Bezugsgebiete – also in der Regel: die katholischen Pfarreien und evangelischen Kirchengemeinden – mit Normdaten aus dem Geschichtlichen Ortsverzeichnis eindeutig zu identifizieren (was allerdings nicht immer gelingt, weil das GOV z.T. nur Siedlungen, staatliche Kommunen und Kirchengebäude, aber nicht die historischen Kirchengemeinden und Pfarreien ausweist). Wenn ein OFB mehrere Gemeinden umfasst, werden diese jeweils in einer eigenen Zeile benannt; die Konfession wird nur grob nach katholisch und evangelisch unterschieden.
Tabelle: Online-OFBs aus NRW – Quellen, Bezugsgebiete, Umfang und Vollständigkeit
OFB | Quellen (lt. Autor) | Bezugsgebiet: Pfarrei / Kirchengemeinde | Konfession | Ehen (in 1.000) | Weitgehend voll- ständig: vor 1800 | … nach 1800 |
Ahaus | KB (nur H) | St. Mariä Himmelfahrt | K | 2 | ja | ja |
Altenberge | KB | St. Johannes | K | 3 | nein | nein |
Alverdissen | KB (ab 1760) | Flecken und Ksp. Alverdissen | E | 1 | ab 1760 | ja |
Coesfeld | Sek.-Lit., KB u.a. | St. Jakobi, St. Lamberti | K | 13 | nein | nein |
Deifeld | Bürgerbücher | St. Joh. Bapt. | K | <1 | nein | nein |
Dreierwalde | KB | St. Anna (GOV: historische Pfarrei fehlt) | K | <1 | nein | ja |
Enger | KB | Stadt und Ksp. Enger | E | 1 | nein | nein |
Erkeln | Kein Heiratsbuch | Nicht benannt | K | – | nein | nein |
Hamm | KB-Abschriften | Mehrere (im Aufbau) | <1 | nein | nein | |
Heek | KB | St. Ludgerus (GOV: historische Pfarrei fehlt) | K | 2 | nein | ja |
Herne | KB | Mehrere | 5 | unklar | ja | |
Hickengrund | KB | Ksp. Niederdresselndorf | E | 3 | nein | nein |
Kettwig | KB | Ref. Gem. Kettwig | E | 6 | unklar | unklar |
Löhne | KB | Löhne | E | 1 | ja | ja |
KB | Gohfeld | E | 5 | ja | ja | |
KB | Mennighüffen | E | 4 | ja | ja | |
Lüdinghausen | KB 19. Jh. | Mehrere | <1 | nein | nein | |
Oberkirchen | KB (OFB-Manuskript) | St. Gertrud | K | 2 | ja | ja |
Ostbevern | KB, OFB | St. Ambrosius | K | 4 | nein | ja |
Rommerskirchen | Standesamt | unklar | <1 | nein | nein | |
Spenge | KB | Spenge mit Lenzinghausen, Hücker-Aschen, Groß-Aschen | E | 3 | ja | ja |
Velbert | KB | unklar | >1 | nein | nein | |
Voerde | KB | Voerde (GOV: historische Kirchengem. fehlt) | E | >1 | nein | unklar |
KB | Götterswickerhamm (GOV: historische Kirchengem. fehlt) | E | 1 | nein | unklar | |
KB | Spellen; Voerde | E & K | 2 | ja | ja | |
Wittgenstein | KB | Ksp. Arfeld | E | 2 | ja | ja |
KB | Ksp. Berleburg | E | 3 | ja | ja | |
KB | Ksp. Birkelbach | E | 1 | ja | ja | |
KB | Ksp. Elsoff | E | 2 | ja | ja | |
KB | Ksp. Erndtebrück | E | 1 | ja | ja | |
KB | Ksp. Feudingen | E | 4 | ja | ja | |
KB | Ksp. Fischelbach | E | 1 | ja | ja | |
KB | Ksp. Girkhausen | E | 1 | ja | ja | |
KB | Ksp. Raumland | E | 2 | ja | ja | |
KB | Ksp. Laasphe | E | 3 | ja | ja | |
KB | Ksp. Weidenhausen | E | 1 | ja | ja | |
KB | Ksp. Wingeshausen | E | 1 | ja | ja |
In NRW lassen sich zwei Typen von Ortsfamilienbuch unterscheiden. Erstens: abgeschlossene Projekte, zu kleineren (Alverdissen, Voerde-Spellen) oder auch größeren (Spenge) und sehr großen (Löhne, Wittgenstein) Räumen. Zweitens: laufende Vorhaben, mit einem noch nicht klar abgrenzbaren zeitlichen, räumlichen und Quellen-Bezug. Teilweise (Coesfeld, Herne, Hamm) geht es hier um große, einwohnerreiche Gebiete im Ruhrgebiet samt Umgebung, was für die künftige wirtschaftshistorische Regionalforschung Grund zu Optimismus bietet. Hamm ist besonders vielversprechend, da hier bereits die Kirchenbuchabschriften von Detlef Berntzen online in hammwiki.info vorliegen. Daneben gibt es auch kleinere Datensammlungen, die vor längerer Zeit entstanden sind und eine Grundlage für zukünftige Arbeiten bieten (z.B. die Bürgerbuchauswertungen im Kreis Medebach). Manche Datenbestände sind für das 19. Jahrhundert schon vollständig und für die Zeit vor 1800 noch unvollständig. Die für demographische Analysen nutzbaren OFBs waren uns für Westfalen überwiegend bekannt (Wittgenstein, Oberkirchen und Löhne; siehe die Studien von G. Fertig 2007, C. Fertig 2012, Bracht 2013, Thiehoff 2015). Zu Alverdissen und Ahaus (wo allerdings bisher nur die Heiraten vorliegen) kennen wir keine Studien. Für das Kirchspiel Spenge hatte ein Bielefelder Doktorand, Peter Klein, in den 1980er Jahren schon eine (wohl verlorengegangene) Familienrekonstitution erarbeitet (Klein 1993, Mager 1982).
Wir haben hier mit Bezug auf NRW 24 Online-OFBs mit 37 Kirchengemeinden bzw. Pfarreien angeschaut. Online-OFBs sind in anderen Teilen Deutschlands sehr viel häufiger; es gibt allein in der heutigen Bundesrepublik Deutschland ca. 740. Bezogen auf die absolute Zahl der erfassten Heiraten machen die für demographische Analysen geeigneten NRW-OFBs etwas über die Hälfte aus. Sehr grob geschätzt schlummert in den Online-OFBs also ein Datenschatz von einigen hundert Orten für die historisch-demographische Forschung – und ein doppelt so großer für die Orts-, Mikro- und Allgemeingeschichte. CompGen sollte es sich zum Ziel setzen, diese Daten identifizierbar und zugänglich zu machen, damit sie nicht nur in der Genealogie, sondern auch für Forschung und Lehre in der Wirtschafts‑, Sozial- und Allgemeingeschichte an den Universitäten genutzt werden können.
Dürfen wir uns etwas wünschen?
Damit OFBs in der akademischen Forschung gut „ankommen“, braucht es weiterhin OFBs, und es braucht Transparenz. Sowohl akademische Wissenschaftler als auch Bürgerwissenschaftler haben daher drei große Wünsche an die Autorinnen und Autoren von OFBs.
Erstens, und ganz grundsätzlich: Wir wünschen uns, dass OFBs weiterhin entstehen und öffentlich zugänglich sind. Obwohl die Zahl der OFBs bereits beeindruckend ist, ist jedes zusätzliche ein Gewinn. Das gilt besonders dann, wenn es gelingt, über einzelne Orte hinaus ganze Regionen verdichtet zu erfassen und damit sowohl dem Interesse am kompletten Geschehen vor Ort als auch dem Interesse am kompletten Lebenslauf und den über den Ort hinausgehenden Heirats- und Herkunftsbeziehungen nachzugehen.
Zweitens: Die Geschichts- und Sozialwissenschaften sind an vielen Formen sozialer Beziehungen interessiert, nicht nur an Abstammung und Heirat. Auch die geschichtlich-genealogische Familienforschung geht weit über die Ereignisse Geburt, Heirat und Tod hinaus, und der GEDCOM-Standard erlaubt es, z.B. Trauzeugen, Berufe, Todesursachen oder Wohnhäuser ebenso festzuhalten wie Quellenangaben. Vielleicht gelingt es, diese über Namen und Daten hinausgehenden Informationen auch in den Online-OFBs sichtbar und systematisch durchsuchbar zu machen.
Drittens: Es gibt bestimmte Angaben, die für jedes OFB in einfacher tabellarischer Form vorliegen sollten und so mehr Transparenz ermöglichen. Zu diesen Informationen gehören:
- Benennung der komplett ausgewerteten Kirchenbücher mit Ort, Pfarrei/Kirchengemeinde, Anfangs- und Endjahr und wenn vorhanden: Link zu Matricula/Archion/FamilySearch.
- Benennung der teilweise ausgewerteten Kirchenbücher aus demselben Ort oder Nachbarorten mit denselben Angaben.
Zusätzlich gibt es Angaben, die nicht fehlen sollten, die aber eher als Text zu formulieren sind. Welche Methode der Kirchenbuchauswertung liegt dem OFB eigentlich zugrunde? Wurden z.B. vorhandene Indexierungen zu Familien zusammengestellt, oder wurden die handschriftlichen Originale gelesen? Wurde aus den einzelnen Kirchenbucheinträgen nur das Ereignis selbst (z.B. die Taufe) mitsamt der Zuordnung zur Familie (den Eltern) gewonnen, oder wurden auch andere Informationen etwa nach der Methode der familienweisen Kirchenbuchverkartung festgehalten?
Eine große Bereitschaft von OFB-Autoren, Auskünfte zur eigenen Arbeit zu geben, würde der Wissenschaft in beiden Formen – ob akademisch oder als Citizen Science – sehr helfen.
Literatur:
Alter, George, Gill Newton und Jim Oeppen (2020): Re-introducing the Cambridge Group Family Reconstitutions. Historical Life Course Studies, 9, 24−48.
Bengtsson, Tommy, Cameron Campbell und Tommy Lee (2004): Life under Pressure. Mortality and Living Standards in Europe and Asia, 1700-1900. Cambridge, Mass.
Boose, Christian (2011): Online-Ortsfamilienbücher. Sedina-Archiv, Heft 3, 186-193.
Bracht, Johannes (2013): Geldlose Zeiten und überfüllte Kassen. Sparen, Leihen und Vererben in der ländlichen Gesellschaft Westfalens (1830-1866), Stuttgart.
Fertig, Christine (2012): Familie, verwandtschaftliche Netzwerke und Klassenbildung im ländlichen Westfalen, 1750-1874. Stuttgart.
Fertig, Georg (2007): Äcker, Wirte, Gaben. Ländlicher Bodenmarkt und liberale Eigentumsordnung im Westfalen des 19. Jahrhunderts. Berlin.
Hammel, E.A. (2001): Demographic Techniques: Family Reconstitution, in: Neil J. Smelser, Paul B. Baltes (Hg.), International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, 3456-3461. Oxford.
Imhof, Arthur E. (1977): Einführung in die Historische Demographie, München.
Imhof, Arthur E. u.a. (1990): Lebenserwartung in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert. Weinheim.
Kaplanis, Joanna u.a. (2018): Quantitative analysis of population-scale family trees with millions of relatives. Science 360, 171–175.
Klein, Peter (1993): Familie und agrarisch-heimgewerbliche Verflechtung. Eine demographische Studie zu Spenge (Ravensberg) 1768-1868. Bielefeld.
Knodel, John E. (1988): Demographic behavior in the past. A study of fourteen German village populations in the eighteenth and nineteenth centuries. Cambridge.
Kriete, Thomas (2021): Vom DES zum OFB: die Kirchenbücher von Enger – ein Erfahrungsbericht. (Webbeitrag Arbeitsgruppe Familienforschung Kreis Herford).
Mager, Wolfgang (1982). Protoindustrialisierung und agrarisch-heimgewerbliche Verflechtung in Ravensberg während der Frühen Neuzeit. Studien zu einer Gesellschaftsformation im Übergang. Geschichte und Gesellschaft, 8(4), 435–474.
Newton, Gill (2011): Recent developments in making family reconstitutions. Local Population Studies Nr. 87 (Autumn 2011), 84-89.
Schlumbohm, Jürgen (2022): Familienrekonstitution avant la lettre. Volksgenealogie und historische Demographie im Kontext von völkischer Wissenschaft, Rassenkunde und Rassenpolitik, in: Georg Fertig & Sandro Guzzi-Heeb (Hg.): Genealogien. Zwischen populären Praktiken und akademischer Forschung. (=Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes/Rural History Yearbook 18/2021), 106-136.
Stelter, Robert und Diego Alburez-Gutierrez (2022): Representativeness is crucial for inferring demographic processes from online genealogies: evidence from lifespan dynamics. PNAS.
Thiehoff (Klages), Stephanie (2015): Rural living standards and demographic responses to short-term economic stress. An event history analysis of fertility in Wittgenstein (Westphalia) in the 19th century. Unpublizierte Master-Arbeit, WWU Münster.
Zedlitz, Jesper u.a., Kirchenbuch-Verkartung (GenWiki-Artikel, abgerufen am 6. Oktober 2022).
Ausgewertete Quellen:
Ancestry: https://ancestry.de/.
Aretz, Leo: PR2 – Personenstand Reader 2. https://pr2.leoaretz.de/.
Evangelische Kirchenbücher: https://www.archion.de/.
Forschungsgruppe Ländliches Westfalen (Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Historischen Seminar der WWU): Unveröffentlichte Kirchenbuchauszählungen aus dem Projekt Regionenbildung und dem Promotionsprojekt Markus Küpker.
Gedcom-Datenbanken: Manfred Büter (OFB Dreierwalde) und Felizitas Plettendorf (OFB Altenberge).
HammWiki e.V.: https://www.hammwiki.info (genealogisch relevant u.a.: https://www.hammwiki.info/wiki/Kategorie:Listen).
Katholische Kirchenbücher: https://data.matricula-online.eu/de/deutschland/.
Mehldau, Jochen K. (2011). Wittgensteiner Familiendatei. Eine Datenbank zur Familiengeschichtsforschung. Als Access-Datei: GESIS Datenarchiv, Köln. ZA8509 Datenfile Version 1.0.0, https://doi.org/10.4232/1.10721.
Mehldau, Jochen K. (2018). Die Wittgensteiner Familiendatei. Landesarchiv NRW D 77 Mehldau Nr. 1. Als GEDCOM-Datei: https://www.archive.nrw.de/landesarchiv-nrw/geschichte-erfahren/familienforschung/die-wittgensteiner-familiendatei.
Online-OFBs in Nordrhein-Westfalen: https://www.online-ofb.de/; siehe Tabelle.