“Stammbaumforschung”. Aspekte eines Aufregers
Am vergangenen Wochenende machte ein Begriff in den Social Media die Runde, der dort sonst nicht “trendet”: der Begriff “Stammbaumforschung”. Was war passiert?
In der Gemeinderatssitzung am 9. Juli 2020 berichtete der Stuttgarter Polizeipräsident Franz Lutz über die Randale in der Stuttgarter Innenstadt in der Nacht zum 21. Juni 2020. Dabei ging er auch auf den sogenannten Migrationshintergrund ein, definiert als “mindestens ein Elternteil ausländischer Nationalität” oder “selber als ausländischer Staatsangehöriger geboren” (siehe Wortprotokoll). Diesem Bericht ging ein (hier publizierter) Antrag der CDU-Fraktion voraus, in dem die Fraktion zahlreiche Fragen nach dem “Migrationshintergrund” von Festgenommenen gestellt hatte. Lutz sagte mit Bezug darauf u. a.: “Bei weiteren 11 deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund steht dieser Migrationshintergrund noch nicht gesichert fest. Ich habe Ihnen gerade die Definition genannt. Und das bedeutet letztendlich Recherchen bundesweit bei den Standesämtern, um letztendlich diese Frage festzustellen. Das ist nicht primär polizeiliche Aufgabe in Ermittlungsverfahren, sondern ist jetzt im Prinzip genau diesem Verfahren hier in Stuttgart geschuldet, dass diese Ermittlungen so geführt werden”.
Am 11. Juli erschien in der Online-Ausgabe der Stuttgarter Zeitung ein Bericht unter dem Titel: “Ermittlungen zur Krawallnacht in Stuttgart. Polizei betreibt Stammbaumforschung der Tatverdächtigen”. In den folgenden Stunden und Tagen wurde der Begriff “Stammbaumforschung” als Hashtag in Social Media und Teil von Schlagzeilen in zahlreichen Print- und Online-Medien aufgegriffen, teilweise auch in der Variante „Stammbaumrecherche“. Mit diesem Wort hatte ein Fraktionsmitglied der Grünen die polizeiliche Praxis als rassistisch kritisiert und offenbar einen Nerv getroffen.
Was hat das mit uns und unserem Hobby zu tun? Sehr wenig und sehr viel zugleich. Sehr wenig: Denn mit der privaten Erforschung der Familiengeschichte, der Erstellung von Ahnentafeln oder Stammbäumen hat das alles nichts zu tun. Und sehr viel: Denn die heftige Kritik an der polizeilichen Praxis erhielt ihre Wucht durch die Assoziation mit der staatlichen Praxis im Nationalsozialismus, den Nachweis arischer Abstammung zu fordern (“Ariernachweis”). Die Nationalsozialisten wollten damit zwischen Deutschen “deutschen Blutes” und Bürgern minderen Rechts unterscheiden – mit schrecklichen, mörderischen Konsequenzen für Millionen Menschen.
“Stammbaumforschung”, “Ahnenforschung” sind Begriffe, die in den Jahren zwischen Mitte der 1930er Jahre und 1940 eine steile Konjunktur erlebten. Zu viele Deutsche hielten still – vermeintlich unpolitisch – und machten mit, zu wenige verweigerten sich und wehrten bereits den Anfängen. So entstanden Strukturen der Macht, die am Ende nur von außen zerschlagen werden konnten.
Vor diesem Hintergrund ist es nur zu erklärlich, dass “Ahnenforschung” im kollektiven Gedächtnis der Deutschen immer noch mit der rassistischen Praxis in den Jahren zwischen 1933 und 1945 in Verbindung gebracht wird. Vereinfacht gesagt: “Ahnenforschung” und “Ariernachweis” werden zusammen gedacht.
Natürlich wird diese gedankliche Verbindung der heutigen privaten Familienforschung nicht gerecht. Die Motive für sie sind sehr vielfältig. Erinnert sei an die lebendige Darstellung in einer Sendung des Deutschlandfunkes, in der auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen Familie im Nationalsozialismus als starkes Motiv thematisiert wurde.
Zu einer systematischen Benachteiligung und Verfolgung einzelner Bevölkerungsgruppen wie im Nationalsozialismus sollte es nach 1945 nicht wieder kommen – daher formulierte der Parlamentarische Rat im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: “Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.” Das ist der Maßstab auch für die – sehr unterschiedlich beurteilten – Vorgänge in Stuttgart.
Ein Aspekt sei noch aufgegriffen, der uns – auch CompGen als größtem und deutschlandweit tätigen genealogischem Verein – zu denken geben kann. Als Familienforscherinnen und -forscher wissen wir, dass Migrationen immer wieder stattgefunden haben. Von Einzelnen und von Gruppen, manchmal aus freiem Willen, oft gezwungen – auf der Flucht vor Not, Verfolgung oder Krieg. Und so wie Migration eine menschliche Grundkonstante ist, so dürfte es auch das Bedürfnis vieler Menschen sein, sich mit der eigenen Herkunft, den eigenen Vorfahren und ihren Lebensumständen zu beschäftigen. Heute leben Menschen in Deutschland, deren Vorfahren vor 1945 z. B. in Bessarabien, Litauen oder Ostpreußen gelebt haben. Es gibt eine lebendige, auch in Vereinen organisierte genealogische Forschung zu diesen Gebieten, die auch zu Kontakten über heutige Landesgrenzen hinweg führt.
Ab den 1950er Jahren kamen Menschen nach Deutschland, deren Eltern und Großeltern in Italien, Griechenland oder der Türkei lebten. Wir leben seit Jahrzehnten in einer Einwanderungsgesellschaft. Sprechen wir mit unseren Projekten und Informationsangeboten auch die Nachkommen dieser Menschen mit “Migrationshintergrund” an?
Vielleicht kann die Aufregung um die falsch verstandene “Stammbaumforschung” Anlass sein, darüber nachzudenken.