Alt und aktuell zugleich: Open Access in der COMPUTERGENEALOGIE 4/2008
Zwischen Vereinsarbeit und Kommerzialisierung
Open Access, freier Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen, lautet seit einigen Jahren die Forderung vieler Forscher in aller Welt. Freier Zugang zu genealogischen Daten ist auch vielen Familienforschern ein wichtiges Anliegen. Es gibt viele Wege, dieses Ziel zu verwirklichen.
von KLAUS-PETER WESSEL
Bis vor kurzem war die Genealogie in Deutschland nahezu ausschließlich von Vereinen und familienkundlichen Arbeitskreisen geprägt. Neben diesen gab es noch eine Handvoll genealogischer Spezialverlage, einige Berufsgenealogen, einige wenige Programmierer genealogischer Software und ein paar weitere Dienstleister in Spezialbereichen wie Stammbaumzeichnung, Transkription etc. Seit kurzem jedoch bahnt sich ein Wandel an, der große Auswirkungen auf unser Hobby haben kann. Die genealogischen Vereine kommen nicht umhin, sich mit den auf den Markt strebenden, kommerziell arbeitenden Firmen auseinanderzusetzen. Sie müssen für sich und ihre Mitglieder Strategien entwickeln, um auch zukünftig noch eine wichtige Rolle spielen zu können. Open Access scheint „das” Zauberwort zu sein.
Open Access
Open Access ist die englische Bezeichnung für einen freien, kostenlosen Zugang zu wissenschaftlicher Literatur und sonstigen Materialien. Unter diesem Stichwort hat sich inzwischen eine internationale Bewegung gebildet, die insbesondere mit der Budapest Open Access Initiative verbunden wird. Die entsprechende Berliner Initiative BOAI fordert,
• dass wissenschaftliche Literatur kostenfrei und öffentlich im Internet zugänglich ist;
• dass jeder Interessierte die Volltexte lesen, herunterladen, kopieren, verteilen, drucken, in ihnen suchen, auf sie verweisen und sie auch sonst auf jede denkbare legale Weise benutzen kann;
• dass keine finanziellen, gesetzlichen oder technischen Barrieren jenseits von denen, die mit dem Internet-Zugang selbst verbunden sind, aufgebaut werden;
• dass in allen Fragen des Copyrights die einzige Einschränkung darin bestehen soll, den jeweiligen Autorinnen und Autoren Kontrolle über ihre Arbeit zu belassen und deren Rechte so zu sichern, dass ihre Arbeit angemessen anerkannt und zitiert wird.
Von Open Access in einem weiteren Sinn spricht man aber auch, wenn der freie Zugang wissenschaftlich wichtige Daten oder digitale Reproduktionen von Kulturgut in Archiven, Bibliotheken und Museen betrifft.
Viele genealogische Vereine sind vom Finanzamt als steuerbegünstigt im Sinne wissenschaftlicher Tätigkeit eingestuft. Erfordert diese öffentliche Förderung nicht geradezu zwingend, dass die Forschungsergebnisse dieser Vereine auch veröffentlicht und jedermann frei zugänglich gemacht werden müssen? Darf eine öffentliche Förderung andererseits „missbraucht” werden, um ausschließlich Bücher und CDs zu publizieren, die nur einem kleinen Kreis verkauft werden?
Wenn Open Access im wörtlichen Sinn zwingend fordert, sämtliche Forschungsergebnisse komplett freizugeben, dann müssen auch kommerzielle Unternehmen sie für sich nutzen dürfen – ein Aspekt, mit dem sich einige Vereine, aber noch mehr Archive schwer tun.
Digitalisierung historischer Quellen
Genealogische Sekundärquellen, wie z. B. Adressbücher, findet man schon seit einiger Zeit vereinzelt im Internet, Primärquellen wie z. B. Kirchenbücher ließen sich bisher nur im Rahmen von Zufallsfunden finden. Allerdings müssen Kirchen und Archive sich zunehmend mit der Digitalisierung ihres Archivgutes auseinandersetzen, schon alleine, um das Originalmaterial zu schonen. Eine Benutzung historischen Archivgutes verbietet sich eigentlich, wenn man mit einer digitalen Quelle genauso gut (vielfach sogar besser) arbeiten kann. Die moderne Technik kann so einen wertvollen Beitrag zum Schutz des Kulturgutes leisten.
Gleichzeitig wecke die Verfügbarkeit digitaler Quellen natürlich auch andere Begehrlichkeiten. Kirchenbücher könnten in digitalisierter Form über das Internet an jedem Ort der Welt zu jeder Zeit gelesen werden – der Traum eines jeden Familienforschers.
Große Diskussionen gibt es über die möglichen Wege zu diesem Ziel. Etliche Forscher vertreten die Meinung, dass die Digitalisate des Kulturgutes zwingend kostenfrei im Internet zugänglich sein müssen (Open Access). Einige Archive digitalisieren ihre Quellen selbst und vertreiben sie dann auf CDs. Privatwirtschaftlich orientierte Firmen digitalisieren für diese Archive und vermarkten die Digitalisate online gegen Gebühren. Inzwischen gibt es viele Ansätze, genealogische Daten zugänglich zu machen – von Vereinen, Archiven, Verlagen und Kirchen, einzeln und in Zusammenarbeit.
Situation genealogischer Vereine
Zurzeit haben sich mehr als 20.000 Familienforscher in Deutschland in den 58 Vereinen organisiert, die dem Dachverband DAGV angeschlossen sind. Die Vereinslandschaft ist sehr stark regional geprägt und orientiert sich vielfach an historischen Strukturen (Oldenburg, Ostfriesland, Franken, Sudeten usw.), ist teilweise aber auch durch die deutsche Teilung beeinflusst (z. B. Arbeitsgemeinschaft Mitteldeutscher Familienforscher). Neben den DAGV-Vereinen gibt es ebenso viele Arbeitsgruppen oder Vereine, die nicht im Dachverband mitarbeiten und ungezählte genealogische Arbeitskreise, die vielfach in historischen Vereinen an einzelnen Orten dauerhaft tätig, aber häufig auch nur für eine kurze Dauer aktiv sind.
Auch wenn die DAGV das „Dach” der in ihr zusammengeschlossenen Vereine ist, findet nennenswerte Zusammenarbeit zwischen den Vereinen bisher fast ausschließlich regional statt (z. B. in Bayern in der AG Bavaria) oder bei Internetprojekten über den Verein für Computergenealogie.
Der Verein für Computergenealogie
Seit der Verein für Computergenealogie (CompGen) 1999 das Internetprojekt genealogy.net weiterführte, ist er sehr stark gewachsen und mit inzwischen über 2.850 Mitgliedern die größte genealogische Vereinigung in Deutschland. (Anm. d. Redaktion: Stand Januar 2020: 3.849 Mitglieder)
Die Ziele des Vereins für Computergenealogie sind:
• die zentrale Anlaufstelle für die freie deutsche Genealogie im Internet bereitzustellen und zu betreiben;
• gemeinsam mit anderen Vereinen große und frei zugängliche internetbasierte Datenbanken und Informationsangebote aufzubauen und zu betreiben;
• werbefreie genealogische Mailinglisten zu betreiben;
• die Computergenealogie als wichtiges genealogisches Magazin zu publizieren;
• auch andere Vereine durch gemeinsame Projekte und Internetauftritte zu stärken.
CompGen will insbesondere nicht
• Internet-,,Insellösungen” unterstützen,
• zulassen dass die deutsche Genealogie US-amerikanisch kommerzialisiert wird.
Die Hauptaktivität des Vereins für Cornputergenealogie ist die Betreuung diverser Internetprojekte, von denen die wichtigsten hier nur kurz angerissen werden, da sie den Lesern der Computergenealogie weitestgehend bekannt sein dürften.
• Mitglieder-Verwaltung, http://db.genealogy.net:
18 Vereine mit ca. 12.000 Mitgliedern verwalten ihre Mitgliedsdaten mit einem gemeinsamen System. Jedes Mitglied hat automatisch eine Zugangsberechtigung zu den wichtigen CompGen-Projekten wie GenWiki, FOKO, GedBas, GOV Weitere ca. 25.000 Familienforscher werden über das gleiche Zugangskennungssystem verwaltet.
• Der deutsche Genealogieserver:
Seit Mitte 1998 ist der deutsche Genealogieserver http://www.genealogy.net oder http://www.genealogienetz.de ein Projekt des Vereins für Computergenealogie und wird von diesem finanziert.
• Gen Wiki, http://wiki.genealogy.net:
Das GenWiki ist ein Lexikon zum Mitmachen für den Familienforscher. Mehr als 40.000 Artikel zu allen Themen aus dem Gebiet der Ahnen- und Familiengeschichtsforschung wurden inzwischen von vielen, vielen Freiwilligen geschrieben.
• Digitale Bibliothek, http://digibib.genealogy.net:
In der digitalen genealogischen Bibliothek werden Digitalisate von historischen Werken bereitgestellt. Mit der Hilfe von Freiwilligen, die diese alten Werke transkribieren, soll eine „digitale Quellenedition” aufgebaut werden. Dieses Projekt bietet eine ideale Möglichkeit, Freiwillige einzubinden!
• GedBas, http://gedbas.genealogy.net:
Die Internetdatenbank GedBas bietet Familienforschern die Möglichkeit, ihre kompletten Forschungsergebnisse in Form einer Gedcom-Datei zu veröffentlichen.
• Familienanzeigen und historische Adressbücher, http://familienanzeigen.genealogy.net, http://adressbuecher.genealogy.net:
Mehr als 200 Freiwillige erfassen Daten aus historischen Adressbüchern oder aus den Familienanzeigen der Tageszeitungen, um diese in zwei großen Datenbanken bereitzustellen.
• GOV, Genealogisches Ortsverzeichnis, http://gov.genealogy.net (Anm. d. Redaktion: seit September 2016 heißt das GOV Geschichtliches Ortsverzeichnis):
Die GOV-Online-Datenbank liefert, wie der Name schon sagt, Informationen über Orte. Oft sind nicht nur die geografische Lage und die Postleitzahlen verzeichnet, sondern auch Hinweise auf vorhandene Kirchenbuchunterlagen und andere genealogische Quellen.
• Online-Ortsfamilienbücher, http://ofb.genealogy.net:
Ortsfamilienbücher sind in gedruckter Form bekannt, doch werden immer mehr auch direkt im Internet publiziert. Für den Ersteller eines Online-OFBs entstehen keinerlei Kosten – der Verein stellt das Programm und den Serverplatz kostenfrei zur Verfügung.
Das Beispiel Ortsfamilienbücher zeigt besonders deutlich die Vorteile von Online-Publikationen: Auch wenn das Werk noch nicht komplett fertig ist, können Teildaten schon publiziert werden. Es ergeben sich – oft noch in der Bearbeitungsphase – Kontaktmöglichkeiten zu anderen Familienforschern, die vielfach weitere Daten (z. B. von Weggezogenen) beisteuern. Da die Datenbank im Internet abfragbar, aber nicht herunterladbar ist, wird das Lebenswerk des Bearbeiters breit gestreut und dadurch bekannter gemacht.
Die Online-Präsentation ist – entgegen der vielfach verbreiteten gegenteiligen Meinung – verkaufsfördernd für gedruckte OFBs, da der Interessierte nicht „die Katze im Sack” kaufen muss. (siehe dazu den Aufsatz des Jura-Professors Lawrence Lessig von der Stanford Law School auf http://www.lessig.org/ blog/archives/eve_gray.pdf; der Kernsatz lautet (übersetzt): ,,Nachdem viele Produkte kostenfrei im Internet publiziert wurden, nahm der Absatz bei den gedruckten Publikationen um 300 % zu.”
Verfügbarkeit aller Angebote
Sämtliche CompGen-Angebote sind von jedermann kostenfrei nutzbar. Jeder darf darüber hinaus an allen Projekten mitarbeiten und Daten einstellen, egal ob Vereinsmitglied oder nicht. Zufriedene Nutzer werden später häufig Mitglied und sorgen anschließend durch ihren Beitrag dafür, dass solche Angebote weiterhin kostenfrei gehalten werden können.
Insofern ist zwar alles „offen und frei zugänglich”, einen Open Access im wörtlichen Sinn erfüllen die Projekte allerdings nicht, denn die kommerzielle Nutzung schließt CompGen aus.
Das Beispiel MAUS
Die MAUS ist ein in Bremen beheimateter, erfolgreicher, regionaler genealogischer Verein. Seit mehreren Jahren werden sämtliche für den und innerhalb des Vereins erstellten Forschungsergebnisse kostenfrei im Internet bereitgestellt (zurzeit mehr als zwei Millionen Datensätze, siehe http://maus.genealogy.net/datenbanken). Der Vorstand ist davon überzeugt, dass gerade dies dazu beigetragen hat, dass der Verein seit mehreren Jahren ein kontinuierliches Mitgliederwachstum hat. (Bei Vereinen, die sehr restriktiv mit ihren Publikationen umgehen, kann dagegen seit Jahren eine Stagnation, oft sogar ein Rückgang der Mitgliederzahlen gesehen werden; und das in Zeiten, in denen das Interesse an unserem Hobby zunimmt.)
Die bekannteste Datenbank ist sicherlich die der Bremer Passagierlisten 1920- 1939 (http://www.passagierlisten.de). In einem Gemeinschaftsprojekt mit der Handelskammer Bremen haben innerhalb von vier Jahren ca. 30 Freiwillige 2.851 Passagierlisten mit 637.880 Passagieren erfasst. Diese Daten sind seit einiger Zeit im Internet kostenlos abfragbar.
Kommerzielle Institutionen wie ancestry.de haben natürlich an den Bremer Passagierlisten ein enormes Interesse und dementsprechend der MAUS-Angebote unterbreitet. Das Freiwilligenteam, das die Daten erfasst hat, lehnte eine Zusammenarbeit mit kommerziellen Firmen allerdings ab. Die Mitglieder wollen ihre für den Verein geleistete, freiwillige Arbeit nicht ausgenutzt sehen! Eine klare Position, die dem Verein garantiert, auch in den nächsten Jahren noch Internetprojekte für die Öffentlichkeit kostenfrei realisieren zu können.
Das Internet wird von der MAUS aber nicht nur für die Präsentation erfasster Daten genutzt, sondern auch als „Telearbeitsplatz für Vereinsmitglieder”. Natürlich können außerhalb Bremens wohnende Mitglieder (Deutschland, USA, Holland, Australien, … ) nicht ins Bremer Archiv kommen, um für den Verein an Projekten mitzuarbeiten, aber wenn Digitalisate von Urkunden im Netz zur Verfügung stehen, dann können diese auch von entfernt wohnenden MAUS-Mitgliedern am heimischen PC erfasst und ausgewertet werden. Anders als bei den Datenbanken werden die Digitalisate von Urkunden allerdings nicht kostenfrei für jedermann bereitgestellt, sondern nur in einem zugangsgeschützten vereinsinternen Bereich. Diese Mitarbeitsmöglichkeit hat enorme Aktivierungserfolge und der Zusammenhalt im Verein ist dadurch noch viel breiter gestreut worden.
Das Beispiel der MAUS zeigt, wie ein offensiver Umgang mit dem Medium Internet und eine offene Publikationsphilosophie ein Wachstum eines Vereins fördern können. Die MAUS ist in den vergangenen sechs Jahren von 600 auf nunmehr 900 Mitglieder kontinuierlich gewachsen und das trotz des relativ kleinen Forschungsgebietes.
Wie machen es „die anderen”?
Im Folgenden wird anhand von Beispielen gezeigt, wie Archive, Firmen und Vereine im In- und Ausland mit den Möglichkeiten der Digitalisierung und des Internets umgehen. Dabei werden wir sehen, dass es sowohl rein kommerziell geprägte Wege gibt, aber dass es daneben auch Wege gibt, die den Interessen unserer Vereine deutlich näher kommen.
Privatwirtschaftlich-kommerziell
Nach mehreren erfolglosen Versuchen hat TGN (The Generations Network, früher MyFamily.com) jetzt doch mit der Website ancestry.de auf dem deutschen Markt Fuß gefasst und versucht nun, die Genealogie auch in Deutschland zu kommerzialisieren. Marktstudien hätten ergeben, dass der deutsche „Genealogiemarkt” der drittgrößte der Welt sei. Mit sehr attraktiven Angeboten werden Archive zur Zusammenarbeit bewogen, allerdings unter dem Verlust der eigenen Internetpräsenz mit den Originalquellen.
Ancestry.de stellt sich in Pressemitteilungen dabei als „die zentrale” Quelle in Deutschland dar. Auf den deutschsprachigen Webseiten werden auch Hinweise für den Einsteiger in die Familienforschung gegeben – ein Hinweis auf genealogische Vereine fehlt bisher völlig.
Für Archive hat das TGN-Angebot vordergründig einige positive Aspekte:
• Äußerst attraktive Angebote für Archive,
• Marktmacht, Kapital, US-Markt im Hintergrund,
• Ausgefeilte, modernste Technik,
• Schnelligkeit bei der Digitalisierung und Indexierung.
Dem gegenüber stehen allerdings bei näherer Betrachtung die Nachteile:
• Internetbasierte Forschung geht an den Archiven und Vereinen vorbei;
• Qualität der Indexierung alter deutscher Handschriften durch billige Arbeitskräfte in Asien erscheint fragwürdig;
• Es besteht die Gefahr der Monopolisierung digitaler genealogischer Quellen.
Firma plus Vereine und Archive
Mit der Edition Brühl (seit 2004) und der Edition Detmold (seit 2006) bietet der Patrimonium-Transkriptum Verlag Archivmaterial auf CD und DVD an. In Kooperation mit dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen und den jeweiligen Abteilungen Personenstandsarchiv Brühl und Staats- und Personenstandsarchiv Detmold wurde eine innovative Präsentationsform für Archivalien enrwickelt. Die Editionsreihen enthalten neben den digitalen Bildern der Kirchenbücher auch ausführliche wissenschaftliche Beschreibungen des Inhalts. In Einzelfällen sind auch Verkartungen beigefügt. Es wird eine intensive Zusammenarbeit mit Familienforschern gesucht, denn anders wären die Verkartungen nicht zu erstellen.
Obwohl vom Archiv als „Open-AccessModell” dargestellt, sind die Digitalisierungen nicht frei zugänglich, sondern werden auf CDs verkauft. Der Weg, den die beiden Archive mit dem PT-Verlag gehen, kommt den Interessen vieler Familienforscher sicherlich recht nahe, gleichwohl sind die Auflagen der CDs sehr gering und werden es bei den relativ hohen Kosten von 30- 50 € pro CD wohl auch bleiben.
Nicht-kommerziell – gegen Widerstände
Das Projekt Kirchenbuch-Virtuell (http://www.kirchenbuch-virtuell.de/) zeigt als Pilotprojekt auf, wie nichtkommerziell hochwertig digitalisiert und publiziert werden kann. Mehrere vereinsunabhängige Familienforscher und EDV-Spezialisten haben sich in Bayreuth zusammengefunden und für viele Kirchen aus dem Kirchenkreis Kirchenbücher digitalisiert. Zum Einsatz kamen dabei hochwertige Buchscanner. Der Wunsch nach Digitalisierung und kostenloser Bereitstellung im Internet kam von den Kirchengemeinden. Leider hat aber die Landeskirche interveniert und etliche Gemeinden eingeschüchtert. Nun wurde ein Verein gegründet und den Mitgliedern werden die bisher über 800 digitalisierten Kirchenbücher in einem „virtuellen Lesesaal” zugänglich gemacht.
Firma plus Archiv – und kostenlos
Der US-Suchmaschinenbetreiber Google hat mit der Bayerischen Staatsbibliothek den ersten deutschen Partner für sein Buchsuche-Projekt „Google Book Search” gewonnen. In nächster Zeit sollen rund eine Million lizenzfreier Werke aus den historischen und aus Spezialsammlungen der Staatsbibliothek digitalisiert werden.
Vorteile:
• Technologie-Führerschaft von Google,
• Kapital im Hintergrund,
• weitgehend freier Zugang.
Nachteile (für Familienforscher):
• Nicht genealogisch ausgeprägt,
• Werbeeinblendungen,
• Gefahr der Monopolbildung
Kirche plus Verein, mit vielen Helfern
Die weltweit größte Initiative, mit Freiwilligen Indexierungen durchzuführen, geht von der GSU (Genealogy Society of Utah) aus, einem „Ableger” der Mormonen.
Die GSU ist technologisch mindestens auf dem gleichen Stand wie vergleichbare kommerzielle Institutionen und hat weltweit die größten, nicht-kommerziellen Digitalisierungskapazitäten.
Das Projekt nennt sich „Familysearch Indexing” und wird in den nächsten Monaten und Jahren für große Umwälzungen im genealogischen Freiwilligenbereich sorgen. Für dieses Projekt wurde eine Software entwickelt, mit Hilfe derer sich Freiwillige jederzeit an jedem Ort der Welt über das Internet Digitalisate auf den heimischen PC downloaden, transkribieren und in einer Datenbank eintragen können. Auf die Ergebnisdaten und das zugehörige Digitalisat kann dann direkt und kostenlos zugegriffen werden. Die GSU bietet ihre Technik auch europäischen Archiven und Vereinen an. Interessant ist, dass die GSU inzwischen nicht mehr darauf besteht, die gescannten Dateien unbedingt auf ihren eigenen Servern zu hosten. Die Scans dürfen also durchaus z.B. bei einem Archiv in derem eigenen Webangebot bereitgestellt werden.
Vorteile:
• Großes Know-How,
• Auf dem neusten Stand der Technik,
• Ausgereiftes Programm zur Datenerfassung mit Internet-Anbindung,
• Nicht kommerziell, Daten frei verfügbar,
• Mehrere Zusammenarbeitsmodelle mit Vereinen möglich.
Nachteil:
• Vorbehalte der katholischen Kirche und einiger deutscher Landeskirchen gegenüber den Mormonen.
Andere europäische Staaten
In Schweden kann man kann alle Kirchenbücher auf Mikrofilmen kaufen (http://www.nad.ra.se/Arkis2/NADpages/SVAR_catalogue.asp). Die Firma Genline digitalisiert zurzeit alle alten, schwedischen Kirchenbücher. Zugang über das Internet mit Gebührenmodell. (1 Monat 42 US$, 6 Monate 228 US$, 1 Jahr 385 US$) (Anm. d. Redaktion: Mikrofilme wurden durch Digitalisate ersetzt; Genline wurde von Ancestry übernommen; Arkivdigital.se bietet alle schwedischen Kirchenbücher und weitere Quellen digital an: 1 Monat 395 SKr, 1 Jahr 1795 SKr).
In Dänemark werden unter http://www.arkivalieronline.dk alle Kirchenbücher vor 1892 und Volkszählungsdaten digitalisiert und online kostenlos bereitgestellt.
Auswirkungen auf Vereine
Wenn immer mehr Archive kommerziellen Firmen Quellenmaterial zur exklusiven (kostenpflichtigen) Internetpublikation überlassen, können Vereine diese Publikationen nicht mehr selbst realisieren, erscheinen also nach außen als untätig und werden damit zunehmend unattraktiver. Man kann es heute schon feststellen: Nur progressiv im Internet aktiv publizierende Vereine haben deutliche Mitgliederzuwächse!
Grundsätzlich werden die Vereine nur dann gegenüber den kommerziellen Institutionen bestehen können, wenn sie dem Forscher einen Mehrwert bieten. Dies sind natürlich die regionalen Zusammenkünfte vor Ort, das sind aber auch die vielfältigen Möglichkeiten, „bessere” Familienforschung betreiben zu können. Den kommerziellen Firmen wird es primär immer nur darum gehen, möglichst schnell, möglichst viel „oberflächliche” Daten bereitzustellen. Mit den Quellen beginnt allerdings erst die wirkliche Familienforschung. An diesen haben Firmen naturgemäß wenig bis gar kein Interesse mehr, denn das kostet und bringt kein Geld ein.
Vereine können den Archiven natürlich – anders als privatwirtschaftliche Unternehmen – keinen finanziellen Ausgleich für die Daten bieten. Aber dafür können sie eine bessere Qualität der Datenerfassung bieten durch:
• muttersprachliche Erfasser (TGN lässt z. B. Indexdaten in China erfassen),
• bessere Sprach-, Orts- und Regionalkenntnisse,
• Identifikation der Forscher mit den Daten und Projekten.
Finanzierungsmöglichkeiten
Archive, Kirchen und Vereine könnten bei einer geschickten, noch zu entwickelnden, gemeinsamen Strategie umfassende Förderungen aus EU-Töpfen erhalten, wenn massiv archivalisches Kulturgut digitalisiert und nach OpenAccess-Richtlinien bereitgestellt werden würde. Die EU stellt für Projekte dieser Art über 85 Mio.€ bereit.
Auch Spendenaufrufe sind eine Möglichkeit. Am Beispiel Wikipedia kann man sehen, dass in der Internet-Öffentlichkeit durchaus große Summen im fünfstelligen Bereich gesammelt werden können, wenn dies zielgerichtet für bestimmte Aktionen nötig ist.
Ein Sponsoring durch Firmen kommt natürlich immer in Betracht. Am besten ist dies zu realisieren, wenn Vereine Sponsoren haben, die nicht genealogisch tätig sind, da hier keine Interessenskonflikte entstehen.
Eine gemeinnützige GmbH, wie sie von Kirchenarchiven ins Gespräch gebracht wurde, darf wirtschaftlich agieren, muss allerdings die Gewinne in die gemeinnützigen Projekte investieren. Kirchen könnten so nach Überlegung einiger Archive ihre Kirchenbuchbestände digitalisieren lassen und selbstständig online vermarkten.
Kooperation von Archiven und Vereinen
Grundsätzlich zeigen Projekte aktiver Vereine und Interessengruppen wie CompGen, MAUS und Kirchenbuch-Virtuell, dass mit Enthusiasmus und Engagement große Leistungen vollbracht werden können, die denen der privatwirtschaftlichen Institutionen nicht nachstehen.
Gleichwohl ist es eine Verschwendung von Ressourcen, wenn jeder Verein und jedes Archiv versuchen würden, alles komplett selbst machen zu müssen. Gefragt werden deshalb in Zukunft intelligente Zusammenarbeitsmodelle sein, die allen Beteiligten Vorteile bieten. Dort, wo es aus religiösen Gründen möglich ist, sollte man auch darüber nachdenken, ob es sinnvoll sein kann, die GSU mit einzuschließen.
Eine breite Zusammenarbeit aller nichtkommerziellen Organisationen kann die Aufwände durch effektiven Mittel- und Hardwareeinsatz (Digitalisierungsarbeiten, Erfassungsarbeiten, Webpräsenzen) auf breite Schultern verteilen und als Open-Access-Projekte der Öffentlichkeit zugänglich machen.
Mit der DAGV- Klausurtagung in Thalbürgel (http://wiki-de.genealogy.net/ DAGV/Thalbürgel-2007 und http:// wiki-de.genealogy.net/Computergenealogie/2007/06) wurde ein wichtiger, erster Schritt unternommen, Archive und Vereine zusammenzubringen. Weitere Gespräche müssen folgen, Projektideen diskutiert und umgesetzt werden. Anbieten würde sich dazu das Projekt kirchenbuch-portal.de, das wir in einer der nächsten Ausgaben vorstellen werden.