#histocamp 2019
Georg Fertig schreibt aktuell in der Compgen-Mitgliederliste: “Du kannst dir nicht vorstellen, welche stumpfen und einfach falschen Vorurteile über die Genealogen in der Geschichtswissenschaft immer noch kursieren – als ob die Genealogie etwas Anrüchiges wäre, nichts als Hobbyrassenforschung in der Tradition von H.F.K. Günther.”
Stimmt das? Kann man leicht überprüfen, man muss nur einmal die eigene Echokammer und somit die eigene Komfortzone verlassen.
Ich war am 22. und 23.11.2019 Teilnehmer am histocamp 2019 des Vereins Open History e.V. in Berlin. Histocamp wird als Barcamp geführt, es ist also eine “Nicht-Konferenz”, bei der die Themen erst während des Treffens nach Interesse festgelegt werden. 200 Menschen hatten die Teilnahme ergattern können, 5 Räume standen zur Verfügung, der Tag wird in Zeitfenster (Slots) von jeweils 45 Minuten geteilt. Den Themen werden Twitter-Hashtags zugeordnet, unter denen – neben dem Hashtag #histocamp – auch in Berlin fleißig getwittert wurde. Und das “Du” ist selbstverständlich.
Ich hatte Exemplare vom Sonderdruck unseres Vereins mitgenommen und dann nach Rücksprache mit dem Veranstalter auch auslegen dürfen. Da am Freitag abend schon alle verschwunden waren, bin ich Samstag mit der doppelten Anzahl erschienen, auch diese waren am Abend verteilt.
Und bevor ich es vergesse, gilt mein Dank den Machern des Camps, einem sehr rührigen Team junger Leute. Der Aufenthalt unter Euch war für mich mehr als eine Frischzellenkur.
Spannend wurde es für mich, als ich am Freitag (18:00 im Münzberger Saal) in dem Slot “#GuenterHannelore” von Christian von einem Briefwechsel erfuhr und dass er Hilfe benötigt. Im Geschichtskontor wurden durch viele Verbündete, die Christian sich erst hatte suchen müssen, diese Briefe transkribiert. Die Verbündeten fand er in der Uni Hamburg, die “Hamburger Alltagsgeschichte(n) im Nationalsozialismus” unter der Überschrift “Hamburg Open Online University” führt. Das Projekt scheint ausgelaufen. Und jetzt hat Christian mehr als 1600 Word-Dateien und dazugehörige Scans mit einem Briefwechsel aus dem Zweiten Weltkrieg, und nun? Wir könnten sie in unsere Digibib überführen. Dort stünden diese Briefe dann unter open access, jeder kann sie wissenschaftlich nutzen und auch z.B. künstlerisch verwerten; Geschichte erlebbar machen ist eines unserer Standbeine.
Und NEIN, wir wollen die Briefe nicht “haben” im Sinne von Besitz. In geeigneter Form werden immer die darauf vermerkt bleiben, die dieses Projekt erst ermöglichten.
“#OpaImKrieg” von Philipp M. Janssen war der erste Slot, den ich am Freitag besuchte. Na was ein Glück, in unserem Sonderdruck war “Großvater im Ersten Weltkrieg” ja ein Thema. Philipp betreibt einen Geschichtspodcast, der AnnoPunktPunktPunkt heißt. Philipp, wie wäre es wenn wir gemeinsam #OpaImKrieg mit #familienforschung verbinden und somit #netzwerken?
“#Holocaustvergleich” war mein nächster Slot. Allein die Frage, ob nun “Holocaust” oder nicht angemessener “Shoa” als Begriff Verwendung finden sollte, war spannend und zwang mich, darüber nachzudenken. Es ging um inflationär gebrauchte Vergleiche mit diesem eben einzigartigen geschichtlichen Ereignis.
“#optionverlag” war ein Austausch zu Fragen, die das Verhältnis Autor, Verlag, open access und mehr umfassten. Und den letzten Slot des Tages habe ich ja schon oben genannt, die Feldpostbriefe.
Für das Programm des zweiten Tages hatte ich mir vorgenommen, über “#vernetzung” zu sprechen, wollte einen der begehrten Slots bekommen. Die Sessionplanung verläuft so:
Du stellst Dich in eine lange Schlange an, hast auf einer Karte Deinen Hashtag vermerkt und sprichst kurz dazu. Sprechen ist ja nicht mein Problem, kurz halten … nun ja, wenn es denn sein muss, geht auch noch. Aber mit den jungen Leuten da um die Wette rennen, nebenbei dann auf die Karte schreiben, also da wäre ich hoffnungslos abgeschlagen gelandet.
Was also macht der Mann, der vermutlich der Stubenälteste da unter den Teilnehmern war? Er drängelt sich vor! Schon bevor der Tag eröffnet und zur Sessionplanung aufgerufen wurde, stand ich längst am Startblock auf Platz 1. Hab eben das Frühstück ausfallen lassen (müssen). Und die Gesamtheit aller Teilnehmer fand auch, dass #Vernetzung ein wichtiges Thema sei.
Und weiter ging es mit den Slots, die ich besuchte:
“#archivpädagogik” von Isabel vom Arolsen Archives war spannend aufgemacht. Geschichtslehrer und angehende Geschichtslehrer waren zahlreich vertreten. Isabel zeigte in ihren 45 Minuten, wie man in Arbeitsgruppen sehr schnell aus Quellen (Akten, Karteikarten usw.) eine kurze Geschichte der darin verzeichneten Personen erstellen kann. Eine auf den Boden geklebte lange Linie stand für die Zeit, die Quellen und deren Infos mussten nun angebracht werden. Ich denke, dass das Format durchaus auch für Erwachsene geeignet ist, muss nur darüber nachdenken, wie man das virtuell gestalten kann.
“#GeschichteAufYoutube” von Tessa, Nils und Benjamin war der nächste Slot, den ich besuchte. Es ging darum, Videos selbst zu produzieren bzw. eine Auswahl zu treffen. Eier aus Stahl wurde von meiner direkten Nachbarin ins Spiel gebracht. Die Idee fand ich toll und habe gleich nachgefragt, ob sie das im Unterricht einsetzen würde. Hmm… meinte sie, ein anderes Format wäre ja noch “DEUTSCHLAND WAS GEHT” von Hazel und Thomas, hat jetzt nichts direkt mit Geschichte zu tun, aber das Format ist nicht schlecht. Medienkompetenz vermitteln war auch noch so ein Schlagwort, die Session war gut besucht.
“#NeuesJahrNeuerSpaß” von Ralf: Content-Menschen und Jahresplanung stand jetzt an. Es ging darum, dass man sich ruhig mal die Zeit nehmen sollte, um z. B. ein neues Jahr vorzubereiten, zu planen, wenn man Content via Internet verbreitet. Ob nun Podcast, Youtube oder Blog, Twitter, Instagram… nehme ich mir mal vor.
“#Vernetzung” war dann schon dran. Oha, mein Slot. In den Pausen hatte ich versucht, mich vorzubereiten. War der felsenfesten Meinung, über unsere Seite im Netz dazu Positives aufzeigen zu können. Und habe eigene Defizite entdeckt! Die Seite hat Verbesserungspotential.
Als die zweite TeilnehmerIn die Tür hinter sich schloss, war meine Zuhörerschaft leider komplett. Ich denke, ich habe klar machen können, dass wir Teil der Bürgerwissenschaft sind und vielfältige Projekte haben, hinter denen tolle Menschen stehen. Anhand unserer Metasuche konnten wir direkt Vorfahren entdecken, und, und, und… da war die Zeit schon um.
Ich hatte nicht auf jede Frage eine Antwort, versprach aber, mich zu kümmern. Eine solche Frage war, ob das Grabsteinprojekt auch jüdische Friedhöfe enthält. Die Antwort bekam ich zu Hause binnen weniger Minuten. “Hallo Bernhard, es sind 146 Jüdische Friedhöfe im Grabstein-Projekt archiviert.” Ich würde der Fragestellerin jetzt gerne die Liste dieser Friedhöfe zuschicken. Und würde Dich auch einladen wollen, uns Deine Erfahrungen mitzuteilen. Deine jüdische Gemeinde hatte ein spannendes Projekt am Start. Die Geschichte dazu kannst aber nur Du erzählen. Meine Karte hast Du vielleicht verlegt, hier findest Du meine Adresse erneut.
“#histobingo” sowie eine Schlussrunde bildeten dann den Abschluss des Histocamps. In 4 Arbeitsgruppen gliederte sich die Schlussrunde, ich fand mich dort, wo es um Verbesserung ging. Was mir fehlte, waren Ergebnisse aus den Sessions. Bei aller offenen Arbeitsweise, aber es braucht doch ein Ziel?
Ein riesengroßer Applaus ging zum Schluss an das Orgateam, an die Macher. Eine tolle Veranstaltung, die sie ohne die Sponsoren nicht geschafft hätten. Denen ist also auch zu danken. Dies findet sich aber alles auf den Seiten von Open History.
Zur #vernetzung wäre ich gerne noch mehr los geworden, aber egal, ein Anfang ist gemacht.
Erst bei der vierten Geschichtswerkstatt in Hamburg war ich bei der richtigen, der mit den Briefen, gelandet. Die Geschichtswerkstätten werden voneinander wissen, aber warum vernetzen die sich nicht und verweisen auf andere Aktivitäten gleich nebenan?
Open History e.V., den Machern biete ich hier gleich mal eine Kooperation an! Kooperation wofür? Wir könnten auf die jeweiligen Kompetenzfelder des jeweilig anderen zugreifen, denn wir wissen spätestens jetzt ja, dass es diesen kompetenten Partner gibt.
Und warum steht das nun auf unserem Blog hier?
Mir haben diese zwei Tage viele neue Eindrücke beschert und mir aufgezeigt, wie bereichernd eine stärkere Vernetzung für jeden Einzelnen sein kann. Das kann ich jedem unter uns empfehlen.
Mancher Genealoge besucht Genealogentage oder genealogische Stammtische. Das ist prima. Und jeder, der dies schon einmal mitgemacht hat, konnte aus der Fülle des Angebotes etwas Neues mitnehmen und sei es nur der persönliche Kontakt mit Anderen, die man bislang nur “virtuell” kannte.
Da bewegen wir uns aber in etwas, was man im Internet eine “Filterblase” nennt, also genau genommen ist es die Echokammer. Da treffen wir überwiegend Gleichgesinnte. Jeder Kontakt kann zu etwas gut sein! Jeder einzelne Kontakt ist der Beginn eines Netzwerks. Einer weiß von Einem, der weiß wieder Einen, so findet es zum Beispiel tagtäglich in unseren Mailinglisten oder auch im Forum statt.
Jeder kann im Genwiki eine Benutzerseite anlegen. Das ist so etwas wie eine Visitenkarte, wo man sich selbst und seine Interessen im Umfeld der Genealogie vorstellen kann. Und kann anhand dieser Informationen von anderen gefunden werden.
Was kann der Einzelne noch so tun? Über den Tellerrand schauen, andere Perspektiven einnehmen, sich vernetzen.
Geht doch mal ins nächste Archiv, wo ist das wohl? Und fragt, ob ihr helfen könnt. Oder in die Gemeinde, Sportklub, wenn es ein Fest gibt, Feste überhaupt, Stadtfeste, Feuerwehr, Schützenverein…
Oder Schule! Geschichtswerkstatt in der Schule. Lehrer, klingelt was?
Zeigen wir auf, dass hier in der Familienforschung Menschen am Werk sind. Zeigen wir, welche Stellung Ahnenforscher innerhalb der Gesellschaft haben. Schaut mal selber kritisch. Es gibt enormes Verbesserungspotential in der Darstellung unseres Hobbies nach außen.
Und jeder kann seinen eigenen Beitrag dazu leisten.