Türkische Zivilstandsregister sorgen für Diskussionen
Am 8. Februar ging in der Türkei eine Regierungs-Webseite online, die allen türkischen Staatsbürgern erlaubt, anhand der Zivilstandsregister ihre Vorfahren zu recherchieren. Bisher musste man dazu einen Antrag stellen. Für die Online-Recherche hingegen braucht man lediglich die staatliche Identifikations-Nummer und ein von der Behörde zugeteiltes Passwort. Der Server brach unter dem Ansturm der Anfragen zusammen und wurde erst am 14. Februar später nach technischen Verbesserungen wieder freigeschaltet.
Schon am 16. Februar berichtete die regierungsnahen Online-Zeitung „Daily Sabah“, dass 8,1 Millionen Bürger sich über ihre Vorfahren informiert hätten. Sie erfuhren Namen, Geburts- und Todesdaten sowie Familienstand ihrer Vorfahren; die Register reichen allerdings nur bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück.
Es gab einige Überraschungen: So fanden sich Urgroßväter und –mütter, die angeblich noch lebten, oder für die ein Familienname eingetragen war, obwohl diese erst 1935 eingeführt worden waren. Wie der Journalist Fehin Tastekin in der unabhängigen Online-Zeitung „Al Monitor“ berichtet, war noch brisanter für manche Türken, dass die Namen ihrer Vorfahren nicht immer „türkisch klangen“ – obwohl sie bislang davon ausgegangen waren „reinblütige Türken“ zu sein.
Tastekin erinnert an den türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink, der 2004 über die armenischen Vorfahren der ersten türkischen Kampfpilotin berichtet hatte und weitere, ähnliche Berichte plante. Dink wurde jahrelang von Nationalisten angegriffen, mehrmals wegen „Beleidigung des Türkentums“ vor Gericht gestellt und 2007 auf offener Straße ermordet. „Dinks Geschichte illustriert, warum die Bevölkerungsregister in der Türkei bis vor kurzem geheim gehalten wurden“, schreibt Tastekin. „Dafür gab es zwei wesentliche Gründe: Um den Anteil der Armenier, Syrer, Griechen und Juden zu verheimlichen, die zum Islam konvertiert sind, und um eine Debatte über das „Türkentum“ zu vermeiden.“ Die Verfassung aus der Zeit Kemal Atatürks definiert als Türken schlicht türkische Staatsbürger, und bis zur Öffnung der Zivilstandsregister sahen viele Türken ihr Volk als eine einheitliche Ethnie. Seit ihrer Öffnung sah man laut Tastekin in den Sozialen Medien Kommentare wie „Krypto-Armenier, Griechen und Juden im Land werden jetzt entlarvt“ oder „Verräter erfahren jetzt endlich ihre Herkunft“.
„Genealogie war immer ein beliebtes Gesprächsthema in der Türkei, aber auch ein Werkzeug sozialer und politischer Trennung“, schreibt er weiter. „Innerhalb der Familie räumte man ein, dass man armenische Vorfahren hatte oder ein lange verstorbener Verwandter zum Islam konvertiert war. Aber diese Gespräche wurden geheim gehalten.“
Es wird interessant sein, zu beobachten, ob die Entdeckung von Vorfahren mit unerwarteter Ethnie oder Religion die Einstellung der Gesellschaft zum Türkentum verändert. Einstweilen warnt die regierungsnahe „Daily Sabah“, keine Fotos genalogischer Daten in sozialen Medien online zu stellen: Die Frage nach dem Mädchennamen der Mutter verwenden z.B. Banken als Passwortersatz – damit spiele man also Hackern in die Hände. RE
Links:
“Turkish genealogy database fascinates, frightens Turks”, Bericht von Fehin Tastekin in der unabhängigen Online-Zeitung „Al Monitor“
„Who are you again: Turks go crazy over genealogy service“, Bericht in der regierungsnahen „Daily Sabah“