Rückblick zur Tagung „Genealogie PLUS” in Marburg
Vernetzung, Digitalisierung und automatische Handschriftenerkennung: Bericht zur Tagung des Hessischen Landesarchivs am 24./25. November 2016
17 Vorträge zwischen Donnerstagvormittag und Freitagmittag: Die im Hessischen Staatsarchiv Marburg in Verbindung mit co:op – The creative archives’ and users’ network veranstaltete Tagung „Genealogie PLUS: Partnership, Open Access und maschinengestützte Indexierung“ bot ein intensives Programm. Anders als der Titel vielleicht suggerierte, war die Tagung inhaltlich nicht beschränkt auf genealogische Daten und Forschung im engeren Sinne. Sie zeigte vielmehr darüber hinausgehend das enorme Potential, das in einer intensiveren Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Archiven, Nutzern und – gemeinnützigen oder kommerziellen – Anbietern liegt.
Angesichts der Fülle der Beiträge und Informationen folgt der Tagungsbericht nicht ihrer chronologischen Reihenfolge oder der Gliederung in drei Sektionen. Eine Online-Stellung der Videomitschnitte der Vorträge über ICARUS ist zudem in Vorbereitung (Dank an Ingrid Reinhardt), so dass die einzelnen Vorträge dann „nachgesehen“ werden können. Da ich als Vertreterin des Vereins für Computergenealogie vor Ort war, gleichzeitig aber engagierte Archivarin bin (und es sich im Kern auch um eine Tagung für eine archivische Zielgruppe handelte), erfolgt mein Bericht aus beiden Perspektiven und gliedert sich in vier inhaltliche Schwerpunkte, die sich m. E. durch die Tagung zogen: 1. Hinwendung der Archive zu den aktuellen und künftigen Nutzern, 2. Digitalisierung als Erweiterung des Archivsprengels, 3. Technische und menschliche Vernetzung sowie 4. Archive als Goldgruben historischer Daten. Aus aktuellem Anlass schließt sich ein Punkt 5. „Doublefold 2.0“ an. Worum ging und geht es?
1. Hinwendung der Archive zu den aktuellen und künftigen Nutzern
Eine gute Nachricht für Menschen, die (auch) Familiengeschichtsforschung betreiben: In Archiven ist etwas in Bewegung geraten. Andreas Hedwig (Hessisches Landesarchiv) stellte einleitend zwar zu Recht fest, dass „Genealogie“ auch heute noch für Staatsarchive kein selbstverständliches Thema sei. Das Hessische Landesarchiv hat sich der großen Nutzergruppe mit familiengeschichtlichen Interessen allerdings zugewendet – die 2016 durchgeführte Nutzerumfrage und jüngst die informative Publikation „Familienforschung im Hessischen Landesarchiv. Spurensuche zu Ihren Vorfahren“ zeugen davon. Auf unserer Mitgliederliste wurde die Publikation samt begleitender Online-Angebote schon lobend vorgestellt; sehr positiv wurde zudem gewertet, dass das Landesarchiv dabei über den Tellerrand (des Archivsprengels) hinaus blickt und nützliche Tipps auch gibt, wo die Forschungen das hessische Territorium verlassen, z. B. bei Auswanderern. Auch die große Nutzerumfrage, die das Archiv des Bistums Passau im Rahmen des READ-Projektes durchgeführt hat (an der sich auch viele Compgen-Mitglieder beteiligt haben dürften), zeugt davon, dass Archive anfangen, sich für ihre Nutzer zu interessieren. Hannelore Putz vom Bistumsarchiv stellte erste Ergebnisse vor, darunter das (das Klischee des „Rentner-Hobbys“ in Frage stellende) Faktum, dass fast die Hälfte der rd. 1000 Personen, die sich an der Umfrage beteiligt haben, noch im Arbeitsleben steht; 41% der Teilnehmer waren im Alter zwischen 30 und 60 Jahren.
Und darüber hinaus: Durch viele Vorträge zog sich wie ein roter Faden, dass jede Art von Interesse an historischen Unterlagen – sei es heimatgeschichtlich, familienkundlich, wissenschaftlich oder in reiner Faszination oder Neugierde begründet – ein legitimes Interesse ist, über das sich Archivarinnen und Archivare freuen können (oder: freuen sollten). Das Internet demokratisiert mit seinen Möglichkeiten den Zugang zu Archivgut – ein Aspekt, auf den u. a. Thomas Aigner in seiner Vorstellung „Von ICARUS zu ICARUS4all: Institutionen und Nutzer vereint in gemeinsamen Zielen“ hinwies. Der Nutzer als Partner auf Augenhöhe: Das wäre ein großer Schritt nach vorne.
2. Digitalisierung als Erweiterung des Archivsprengels
Für fast alle öffentlichen Archive ist ihr „Archivsprengel“ konstitutiv. Er definiert die Zuständigkeit des Archivs für einen konkreten geographischen Raum durch die vergangenen Jahrhunderte bis heute. Aus dem Sprengel ergibt sich, von welchen Behörden, Einrichtungen, Institutionen das Archiv Archivgut verwahrt. Und bis vor zehn, fünfzehn Jahren bildete der Archivsprengel auch den geographischen Raum, aus dem ein großer Anteil der Benutzer eines Archivs kam (auch wenn natürlich auf dem Postweg oder telefonisch auch Anfragen aus einem weiteren Umfeld das Archiv erreichten). Mit der Online-Stellung von Verzeichnungsinformationen, noch mehr mit der Online-Stellung von Digitalisaten und vor allem mit der Auffindbarkeit von Index-Daten in großen Datenbanken / Portalen erweitert sich der Nutzerkreis der Archive jedoch über den ganzen Globus. Die digitalisierte Urkunde aus dem Stadtarchiv Bautzen wird über die Plattform Monasterium.net auch von New York oder Sidney aus bei Interesse gesucht, gefunden und benutzt. Noch aber verharren viele Archivare und Archivarinnen gedanklich in ihrem Archivsprengel und nutzen die sich bietenden Chancen der Digitalisierung (beginnend bei der Online-Stellung der Findmittel) für die Erweiterung ihres Wirkungsbereiches nicht oder wenig. Dabei bieten sich daran Interessierten viele Möglichkeiten: Nur eins von vielen möglichen Beispielen ist das Angebot von Google Arts & Culture, das von Kristina Leipold (Google Deutschland) unter dem Titel „Historischer Content bei Google – Attraktiv für Archive!“ vorgestellt wurde. Die archivischen Partner können auf dieser nicht kommerziellen Plattform eigenständig in einem CMS arbeiten, es erfolgt keine Daten- oder Rechteübertragung an Google. Das Bundesarchiv nutzt diese Möglichkeit seit Jahren für virtuelle Ausstellungen, das Landesarchiv Hessen wird in Kürze mit einem Projekt zu historischen Kriegskarten zu amerikanischen Städten starten.
3. Technische und menschliche Vernetzung
Das Internet hat Möglichkeiten einer technischen Vernetzung mit sich gebracht, die das Teilen von Wissen und Daten und das gemeinsame Arbeiten an genealogischen Wissensbeständen revolutioniert haben. Beides ist nicht neu: Vor fast hundert Jahren begann mit dem über acht Jahrzehnte dauernden Ahnenlistenaustausch das Teilen in deutlich überregionalem Maßstab und kurz darauf – noch in den 1920er Jahren – der Aufbau der Ahnenstammkartei als Verkartung dieser Ahnenlisten: Eine Datenbank in analoger Zeit. Heute vernetzen die technischen Möglichkeiten Menschen mit sich überschneidenden Interessen über Kontinente hinweg. Ein „Low-Tech-Beispiel“ stellte Roger Lustig (Princeton, USA) mit dem „Hessen – Gatermann Index“ vor, bei dem eine spezialisierte Interessensgemeinschaft ohne große Ressourcen Digitalisate von jüdischen Personenstandsunterlagen aus dem Hessischen Landesarchiv indiziert und über die JewishGenGermany Database zugänglich gemacht hat. Wie stark Informations- und Datenaustausch prägende Trends sind, war auch ein Thema in meinem Vortrag über „Familiengeschichtsforschung in Zeiten der Digitalisierung“. Die zentrale Funktion von Normdaten erläuterte Stefan Aumann (Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde) in seinem instruktiven Beitrag über „Die Vernetzung heterogener Informationsressourcen über Normdaten“. Bei der Gelegenheit: Möglichkeiten der Normierung biographischer Daten wird unser stellv. Vorsitzender, Jesper Zedlitz, bald in der Fachzeitschrift „Archivar“, vorstellen.
Bild: Thekla Kluttig beim Vortrag „Familiengeschichtsforschung in Zeiten der Digitalisierung“
Von den Daten zu den Menschen: Den enormen Wert von informellen zwischenmenschlichen Kontakten betonten Francesco Roberg in seinem Vortrag über die internationalen Netzwerk-Projekte co:op – The creative archives’ and users’ network und READ(Recognition and enrichment of archival documents) sowie Thomas Aigner von ICARUS. Bei aller Verlagerung von Arbeit und Freizeitaktivitäten vor den individuellen mobilen oder nicht-mobilen Bildschirm: Der persönliche Kontakt zwischen Menschen ist nicht zu ersetzen. In diesem menschlichen Grundbedürfnis liegt auch künftig eine Chance für die genealogischen und historischen Vereine; allerdings werden sie das Gute aus beiden Welten – der analogen wie der digitalen – miteinander verbinden müssen, um Menschen anzusprechen. Und gleiches gilt für Archive.
4. Archive als Goldgruben historischer Daten
Jenseits der kleinen Gruppe von Archivaren und Archivbenutzern (weibliche mitgedacht) hat das Stichwort „Archiv“ lange Zeit nur Desinteresse ausgelöst; die Klischees sind bekannt. Natürlich ist das in weiten Teilen der Bevölkerung und der Medien auch heute noch so, aber: Unter dem Signum „Big Data“ haben gemeinnützige und kommerzielle Anbieter von Daten das riesige Potential an historischen Daten entdeckt, das in Archiven schlummert. Zu Recht gehen sie davon aus, dass es ein großes, weltweites Interesse von Menschen an diesen historischen Objekten und Informationen gibt: Alle historische Informationen mit Orts-, Personen- oder Sachbezügen gehören dazu. Bekannt ist das Interesse von Anbietern wie Ancestry, MyHeritage oder FamilySearch an personenbezogenen Daten im „klassischen“ Sinn, also Kirchenbüchern und Personenstandsunterlagen. Aber innovative Anbieter haben erkannt, dass der „Content“ von Archiven weit darüber hinausgeht: historische Karten, Fotos und personen- und ortsbezogene Dokumente aller Art sind – auch kommerziell – von Wert. Denn es gibt einen Markt dafür: Menschen, die bereit sind, für den Zugang zu zahlen. Nebenbei bemerkt sollten Archivare darüber nicht die Nase rümpfen: qua Gebührenordnungen ist auch der bisherige Zugang zu Archivgut für Menschen außerhalb der institutionalisierten Wissenschaft regelmäßig mit Kosten verbunden. Unter Familienforschern ist die Existenz eines „Marktes“ natürlich ein alter Hut – vielen Archivarinnen und Archivaren ist aber nicht bewusst, was Francesco Roberg so auf den Punkt brachte: „Archivische Daten sind international eine Währung“. Und dieser Markt gewinnt mit der Perspektive einer automatischen Handschriftenerkennung (die auf der Tagung durch die Fa. Qidenus Technologies repräsentiert wurde) erheblich an Dynamik. Man denke nur ganz kurz darüber nach, welche Perspektiven sich damit eröffnen und versteht, dass eine Goldgräberstimmung entstehen kann. Und dieser Markt besteht auch bei Daten, die gleichzeitig open access zur Verfügung stehen: Eine Tatsache, die vielen Archivaren und Archivarinnen unklar ist, weil sie sich bisher nicht klargemacht haben, wie viele Menschen in und außerhalb von Europa lieber gegen eine Bezahlung den Zugang zu einem großen Datenportal haben, als auf der Suche nach Daten zu Vorfahren aus Deutschland auf 25 einzelnen Archivwebseiten nach Informationen zu suchen.
Dies ist nicht der Ort, um das für und wider einer archivischen Beteiligung an diesem Markt (zwischen open acess und Bezahlschranken) zu behandeln. Ein Gedanke sei aber geäußert: In der vor-digitalen Zeit haben Archive Findbücher und Urkunden- oder Akteneditionen bei Verlagen publiziert, die für diese Publikationen und damit ihre Leistungen Geld erhielten. Die Gründerin und Geschäftsführerin der Fa. Qidenus, Sofie Quidenus, stellte ihre Firma als einen Verlag für Archive vor, die den Brückenschlag in die Wirtschaft wagen. Und der Verlags-Begriff ist passend gewählt: Das Archiv stellt Inhalte zur Verfügung, das Unternehmen bereitet diese für die Publikation (im Netz) auf und vermarktet sie. Und dies ist durchaus parallel zu einem open access – Zugang möglich.
Bedauerlich war allerdings, dass die „maschinengestützte Indexierung“ in Form der Handwritten Text Recognition (HTR) zwar Thema mehrerer Vorträge war, die konkret erreichten Fortschritte aber deutlich weniger dargestellt wurden als das darin liegende Potential. Für einen Verein wie Compgen, bei dem Indizierungsprojekte einen (wenn auch nicht den einzigen) „Markenkern“ darstellen, ist HTR und seine Konsequenzen natürlich ein überaus wichtiges Thema.
Und nun zum aktuellen und mich sehr beunruhigenden Anlass, hier ein weiteres Thema anzusprechen:
5. Doublefold 2.0
In meinem Vortrag hatte ich unter dem Stichwort „Doublefold 2.0?“ daran erinnert, dass vor nun 15 Jahren das Sachbuch „Double Fold“ von Nicholson Baker unter dem Titel „Der Eckenknick“ auf Deutsch erschien. Er schilderte – und verurteilte – das Vorgehen von wissenschaftlichen Bibliotheken in den USA, die dank massiver finanzieller Mittel noch in den 1980er und 90er Jahren flächendeckend Zeitungsbände auf Mikrofilm aufnahmen und die Originale anschließend vernichteten. Auslöser dafür, diesen Aspekt in meinen Vortrag aufzunehmen, war die Feststellung eines Vertreters des finnischen Nationalarchivs auf einer Tagung im Januar 2016, dass man dort vor einer Digitalisierung von Amtsbüchern die Bindungen aufschneide, da die Digitalisierung dann schneller („effizienter“) erfolgen könne. Ich habe diese Haltung im Blog Archivalia kritisiert. Und sehe mich nun in meiner Sorge bestätigt, dass die für Digitalisierungsmaßnahmen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel einen Hype auf Kosten der Originale erzeugen, wie es damals die Mittel für die Verfilmung taten: Im jüngsten Heft von insight, der Zeitschrift von ICARUS, weist der Generaldirektor des finnischen Nationalarchivs darauf hin, welches Einsparpotential dadurch besteht, dass Archivgut dort nach der Digitalisierung vernichtet wird.
Ich kann die Lektüre von “Der Eckenknick” nur empfehlen. Wir sollten aus dieser Geschichte lernen und bei der Digitalisierung mit Augenmaß vorgehen: Digitalisierung ja, aber nicht auf Kosten der Originalüberlieferung!
Thekla Kluttig
Bilder Ingrid Reinhardt